Verzeichnis

der hier eingestellten Essays, Statements, Protokolle   usw.

 

1. Kriterien für eine faire Verteilung von Nutzen und Lasten der Flüchtlingspolitik

2. Vogel: Das Dunkle im Menschen, Protokoll eines Vortrags bei der VHS Chemnitz am 30.3.2019

3. Thea und Bruno Johannsson: Plädoyer für eine global-solidarische Flüchtlingspolitik. Beitrag zur UN-Konferenz in New York über den UN-Pakt für Flüchtlinge

4. Bruno Johannsson: Die Hebammenmethode modifiziert

5. Bruno Johannsson: Wohlwollen und Wohlfahrt - zwei Seiten einer Medaille

6. Ist Eigentum Diebstahl?

7.Wollen wir gleich sein?

 

 

 

Bruno Johannsson

Kriterien für eine faire Verteilung von Nutzen und Lasten der Flüchtlingspolitik

Essay

(aus: Bruno Johannsson (2018): Flucht - eine globale Herausforderung. Wege im Dilemma, BoD, Norderstedt, S. 313-321)

 

 

 

Aus der Vielzahl der im Laufe der Geistesgeschichte diskutierten Maßstäbe für Gerechtigkeit erscheint eine Kombination aus den Vorschlägen von Pareto, Rawls, Baumol, Sen und Nussbaum besonders geeignet: Diese Kombination ist mit der Liebesmaxime kompatibel und kann gut ins Verhältnis zu konkurrierenden sozialen Anliegen gesetzt werden.

 

 

 

Wir haben in den entsprechenden Kapiteln einen Überblick über die potentiellen Vor- und Nachteile der Flüchtlingspolitik eines Landes aus der Perspektive verschiedener Bevölkerungsgruppen  gegeben. Für die Wohlfahrt des betroffenen Landes und für die Akzeptanz seiner Politik sind aber nicht nur die Größenordnungen relevant, in denen sich Nutzen und Kosten bewegen, sondern auch ihre Verteilung auf die Bürger. Dies beruht darauf, dass wir die Wohlfahrt einer Gesellschaft in Abhängigkeit von der Wohlfahrt aller ihrer Bürger sehen.[1] Wir benötigen nach Rawls also „Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit“, die „die richtige Verteilung der Früchte und der Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit festlegen.[2]  Das Besondere an dem Konzept von Rawls ist, dass er nicht nur eine gerechte Verteilung des Nutzens sondern auch der Lasten einer öffentlichen Maßnahme postuliert. Dies ist eine logische Konsequenz aus seinem Ansatz, die Politik eines Staates als eine Form der „gesellschaftlichen Zusammenarbeit“ aufzufassen, die zwar unter der Leitung der unter fairen Bedingungen gewählten Beamten erfolgen soll, bei der aber jeder einzelne Bürger ein Partner ist, der Anspruch auf gerechte, d. h. faire, Behandlung hat.[3]

 

Bei der Flüchtlingspolitik wie bei fast jeder Art von Politik gibt es Gewinner, Verlierer und Gruppen, die sich nicht betroffen fühlen. In Anbetracht dieser Tatsache ist es im Einzelfall nicht leicht, zu entscheiden, ob eine Maßnahme sozialen Fortschritt, Rückschritt oder Stillstand bewirkt. Im Falle der Flüchtlingspolitik kommt noch hinzu, dass sie normalerweise vorrangig zum Wohle von ausländischen Personen konzipiert ist. Ihr Wert kann deshalb letztlich nur in globaler Perspektive beurteilt werden. Nur wenn eine Nation in ihrer Gesamtheit sozialaltruistisch eingestellt ist, impliziert eine globale Wohlfahrtssteigerung auch eine nationale. Wie spätestens die Krise 2015/16 gezeigt hat, gab es möglicherweise keinen einzigen betroffenen Staat, bei dem eine liberale Flüchtlingspolitik durchgängig, d. h. von September 2015 bis August 2016, eine Mehrheit in der Bevölkerung hatte.[4] Anders ausgedrückt: Die Gesellschaften der Aufnahmeländer waren noch nicht einmal mehrheitlich geschweige denn einstimmig während der gesamten Krise sozialaltruistisch eingestellt. Ein von Land zu Land unterschiedlich großer Teil der Bevölkerungen empfand die Aufnahme der Flüchtlinge als wohlfahrtsmindernd und lehnte sie deshalb ab.

 

Der italienische Ökonom und Soziologe Vilfredo Pareto (1848 – 1923) hat ein Konzept für die Beurteilung einer Maßnahme im Hinblick auf den sozialen Fortschritt entwickelt, bei dem wir die konträren Einschätzungen einer sozialen Maßnahme durch die Bürger nicht saldieren müssen, um den durch die Maßnahme bewirkten sozialen Fortschritt bzw. Rückschritt zu ermitteln. [5] Nach Pareto liegt sozialer Fortschritt dann vor, wenn durch eine Maßnahme mindestens ein Bürger besser und keiner schlechter gestellt wird. Es gibt somit Gewinner aber keine Verlierer. Baumol hat eine solche Verteilung der Folgen einer Maßnahme als fair bezeichnet.[6] Bei grober Betrachtung können wir dem zustimmen. Allerdings führt eine solche Maßnahme zu einer Verschlechterung der Ressourcenverteilung gegenüber der Situation vor der Maßnahme: Die Verlierer stehen nach der Maßnahme zumindest relativ schlechter da. Wenn sie Neidgefühle entwickeln, führt dies zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung ihres Wohlbefindens. Verwenden wir das Liebeskonzept als Maßstab, so stellen wir selektive Liebe fest: Nur bei einem Teil der Bevölkerung wird das Wohl erhöht. Der andere Teil geht absolut gesehen leer aus und relativ betrachtet steht er sich schlechter als vor der Maßnahme.

 

Da es nur wenige Maßnahmen gibt, die das Pareto-Kriterium von vornherein erfüllen, wurde dieses  mit Recht  dahingehend kritisiert, dass es fortschrittsfeindlich in dem Sinn ist, dass seine Anwendung die meisten öffentlichen Maßnahmen verhindern würde. Dieses Argument kann abgemildert werden, wenn man die Kompensation der Verlierer in einem zweiten Schritt der Maßnahmenplanung berücksichtigt. Dies haben Kaldor und Hicks mit ihren Kompensationskriterien vorgeschlagen. Deren Grundgedanke besagt, dass eine soziale Maßnahme nur dann die Wohlfahrt der Gesellschaft steigert, wenn sie auch bei Kompensation der Verlierer vorteilhaft bleiben würde.[7]  Wird diese tatsächlich in die Planung eingebaut, um zugunsten der Verlierer umgesetzt zu werden, so ist damit die Pareto-Bedingung erfüllt. Da dies erst in einer zweiten Planungsphase geschieht, spreche ich von dem modifizierten Pareto-Kriterium oder dem Pareto-Kriterium nach Kompensation. Im Hinblick auf die Fairness der Verteilung von Nutzen und Kosten ist sie ebenso zu beurteilen wie der wenig realistische Fall, dass es von vornherein nur Gewinner und gar keine Verlierer gibt.[8]

 

Wenn die Kompensation der Verlierer nicht tatsächlich stattfindet, gibt es somit in doppelter Hinsicht Verlierer bei dieser öffentlichen Maßnahme: Sie stehen sich nicht nur relativ sondern auch absolut schlechter. Eine solche Verteilung von Nutzen und Schaden würde ich als unfair bezeichnen. Sie ist auch inkompatibel mit der Vorstellung von einer „gesellschaftlichen Zusammenarbeit“. Was ist das für eine Zusammenarbeit, bei der die einen gewinnen und die anderen verlieren, zumal wenn die Gewinner die schon vorher Reichen und Mächtigen und die Verlierer die schon vorher Armen sind?  Auch mit dem Liebespostulat, bei dem das Wohl aller Bürger zu fördern ist, kann eine solche Maßnahme nicht gerechtfertigt werden.

 

Rawls hat in seinem Konzept für soziale Gerechtigkeit den Fall der Ungleichverteilung von „Früchten und Lasten“ einer Maßnahme mit Recht als häufig auftretendes Problem angesehen und wohl auch deshalb in seinem Fairness-Konzept ausdrücklich berücksichtigt: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).“[9] Ich interpretiere Rawls dahingehend, dass er als Folge einer Maßnahme die Verbesserung der Verteilung zugunsten der Ärmeren verlangt. Dies ist nur durch Überkompensation der Schäden der Verlierer möglich insoweit diese zu den Ärmeren zählen. Rawls postuliert somit einen höheren Grad an Fairness als sie im modifizierten Pareto-Prinzip gegeben ist.

 

Noch einen Schritt weiter in derselben Richtung geht Baumol bei seinem Konzept der Superfairness. Er verlangt die Gleichverteilung des sozialen Wohlfahrtszuwachses aus einer Maßnahme auf alle Beteiligten. Diesen Zuwachs fasse ich auf als Saldo aus allen individuellen Nutzenzuwächsen und -einbußen.

 

Dazu ein kleines stark vereinfachendes Zahlenbeispiel. Eine Kommune plant eine Infrastrukturmaßnahme, die den Wert des Grundstücks eines Reichen erhöhen und gleichzeitig den Wert des Grundstücks eines Mittelständlers verringern würde. Ein Beispiel dafür wäre der Bau einer Straße, die den Zugang zum Grundstück des Reichen verbessert und das des Mittelständlers belastet. Vor der Maßnahme sei das Verhältnis der Grundstückswerte 10:90, nach der Maßnahme wäre es 9:96, also deutlich ungünstiger für den Mittelständler. Nach dem einfachen Pareto-Prinzip müsste die Maßnahme unterbleiben, weil es einen Verlierer gibt. Gemäß dem modifizierten Pareto-Prinzip würde der Mittelständler mit einer Einheit kompensiert und wäre bei 10 wie vorher. Dem Reichen blieben 95. Die Vermögensverteilung hätte sich von 10:90 (= 10%:90%) auf 10:95 (= 9,5%:90,5%)  zu Lasten des Mittelständlers verschlechtert. Baumol verlangt nun die Gleichverteilung des nach der Kompensation verbleibenden Gewinns. Danach ergeben sich 12,5:92,5 (11,9%:88,1%) als Verteilungsrelation, was eine deutliche relative und absolute Verbesserung zugunsten des Ärmeren darstellt. Damit ist auch das Differenzprinzip von Rawls erfüllt, obwohl dieser den Umfang der Begünstigung des Ärmeren offen lässt und wir diese auch bei einem Verhältnis von z. B. 10,5%:89,5% als gegeben betrachten müsste. Das Superfairness-Prinzip von Baumol ist somit eine bestimmte Variante dessen, was Rawls allgemein mit dem Differenzprinzip postuliert.

 

Zusammenfassend möchte ich 4 Grade von Fairness unterscheiden: 1. Es gibt Gewinner und es gibt Verlierer die aber kompensiert werden. Sie stehen sich damit absolut gleich gegenüber dem Zustand vor der Maßnahme, aber relativ schlechter. 2. Es erfolgt eine Überkompensation in dem Umfang, dass die Verteilung gleich bleibt. (In obigem Zahlenbeispiel 10,5:94,5 (=10%:90%)). Der Ärmere steht sich absolut besser als vorher und relativ gleich. 3. Es erfolgt eine noch stärkere Überkompensation, sodass sich der Ärmere nicht nur absolut sondern auch relativ besser steht. 4. Es erfolgt eine Gleichverteilung des sozialen Wohlfahrtsüberschusses auf alle betroffenen Bürger nach Durchführung der Kompensation aller Verlierer (Superfairness nach Baumol) Die relative und absolute Position des Ärmeren verbessert sich noch einmal gegenüber der Fairness 3. Grades.

 

Wenn wir Grade von Fairness gewissermaßen auf einer Skala abtragen können, so stellt sich die Frage, ob dies nicht auch beim Gegenteil, der Unfairness möglich ist. Bevor ich die Abstufungen erläutere möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht jede Art von Unfairness im sozialen Umgang miteinander eine Art von Ausbeutung beinhaltet. Wenn eine Arbeitskraft unterbezahlt ist, wird sie dann nicht in gewissem Umfang ausgebeutet? Wenn Waren in der Dritten Welt zu unfairen Preisen eingekauft werden, ist es dann nicht eine Art von Ausbeutung dieses Landes? Ich bejahe diese Fragen und spreche deshalb im Folgenden von den fünf Graden der Ausbeutung im Zusammenhang mit einer sozialen Maßnahme: 1. Es gibt bei einer Maßnahme Gewinner und Verlierer. Letztere werden nicht durch die Gewinner kompensiert. 2. Sie werden auch nicht aus öffentlichen Mitteln kompensiert. 3. Die nicht kompensierten Verlierer tragen zum Gewinn der Gewinner bei. Dieser Beitrag wird unangemessen oder gar nicht entgolten. 4. Sie werden indirekt zu diesem Beitrag gezwungen, weil sie sonst unter ihr Existenzminimum fallen würden.  5. Sie werden direkt zu diesem Beitrag z. B. in Form von Arbeitsleistungen gezwungen (Sklaverei).

 

Ich hatte noch angekündigt, Amarthya Sen und Martha Nussbaum mit ihren Vorschlägen zu berücksichtigen. Dies ist gerade bei Flüchtlingsfragen angebracht, weil wir hierbei nur selten in Heller und Pfennig wie in obigem Zahlenbeispiel argumentieren können. Sen hat sich mit der Frage der Messung der sozialen Wohlfahrt beschäftigt und in diesem Zusammenhang den „capability approach“ zur Diskussion beigesteuert, der dann von Nussbaum erweitert wurde.[10] Die Freiheiten und Verwirklichungschancen („Fähigkeiten“) des Individuums treten dabei stark in den Vordergrund als Basis für seine Wohlfahrt. Nussbaums sehr umfangreiche und in ihrer Logik nicht immer plausible Fähigkeitenliste bezieht sich auf folgende Bereiche: Überleben, Ernährung, Wohnung, Sicherheit, Gefühlslagen, Arbeit, Menschen- und Bürgerrechte, Autonomie, Eigentumsrechte, Bildungsmöglichkeiten, Freizeit, soziale und ökologische Einbettung.[11] Zweifellos spielen bei einem solch qualitativen Ansatz Mess- und Gewichtungsprobleme eine gravierende Rolle, auf die wir hier aber nicht eingehen müssen. Entscheidend ist, dass sich Nutzen und Lasten einer flüchtlingspolitischen Maßnahme im Prinzip in jedem dieser Bereiche auftreten können, sodass die Art ihrer Verteilung auf alle Betroffenen zum Problem werden kann.

 

Es muss noch die Frage geklärt werden, in welchem Verhältnis die genannten Grade von Fairness und Ausbeutung zum Konzept der Liebe stehen, das wir bei den individualethischen Betrachtungen des ersten Abschnitts erfolgreich mit der Nutzen- und Wohlfahrtstheorie verknüpfen konnten. Wenn die Grundeinstellung der Liebe für den Einzelnen bedeutet, dass er im Idealfall sein eigenes Wohl und das seiner ganzen Umwelt anstrebt und diesbezüglich in keiner Weise selektiv ist, so besagt dieses Prinzip im gesellschaftlichen Kontext allemal, dass die gewählten Amtsträger einer Gesellschaft – zumal wenn sie einen entsprechenden Amtseid geleistet haben – diese Grundeinstellung jedem Bürger gegenüber haben sollten und zwar unabhängig von dessen Weltanschauung. Damit erweist sich jede der fünf genannten Formen von Ausbeutung im Zusammenhang mit einer sozialen Maßnahme als sozialethisch inakzeptabel. Nicht so einfach ist die Frage zu beantworten, ob aus der Liebesmaxime zwingend ein bestimmter Grad an Fairness folgt und wenn ja welcher. Die Klärung dieser Frage bedürfte einer eigenen Abhandlung, die möglicherweise Buchstärke haben müsste. (Vgl. Frage 2). Allemal ist man im Hinblick auf die Liebesmaxime auf der sicheren Seite, wenn man den obigen vierten Fairnessgrad postuliert, bei dem der Wohlfahrtszuwachs auf alle Beteiligten gleich verteilt wird. Gleichheit wird in der philosophisch-theologischen Diskussion immer wieder in enge Verbindung mit Gerechtigkeit und Fairness gebracht und ist ein naheliegender Maßstab. Sie stellt allerdings mitunter höchste ethische Anforderungen an die Mentalität der Mitglieder einer Gesellschaft. Da diese Voraussetzungen in der Praxis nur selten erfüllt sind, ergeben sich neue Probleme und Zielkonflikte, die evtl. nur zweitbeste Lösungen ermöglichen.[12] (Vgl. auch Frage 1).

 

 

 

 

 

Offenen Fragen

 

1. Wird der Konflikt zwischen Effizienz und fairer Verteilung gemindert oder gar beseitigt, wenn man berücksichtigt, dass eine unfaire Verteilung von Nutzen und Kosten einer Maßnahme für sich betrachtet die Wohlfahrt der Benachteiligten mindert?

 

2. Welcher Grad an Fairness bei der Verteilung von Nutzen und Lasten sozialer Maßnahmen ist zu postulieren, wenn man die Grundeinstellung der Liebe im Sinne von umfassendem Wohlwollen postuliert?

 

 

 



[1] Wegen diffiziler Messprobleme scheidet wie bereits erwähnt eine einfache Addition und Saldierung der individuellen Nutzen- und Schadenniveaus der Bürger eines Landes zwar weitgehend aus, aber die Präferenzen (Vorlieben) jedes einzelnen Bürgers sind zu respektieren.

[2] Rawls, John (2001/2006): Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Hg. Erin Kelly, Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 20.

[3] Mit seiner Vorstellung von einer „gesellschaftlichen Zusammenarbeit“ aller Bürger steht Rawls in einer philosophischen Tradition, die von Aristoteles über römische, christliche und muslimische Denker bis zu Locke, Rousseau, Mill und darüber hinaus bis in die Gegenwart reicht. Die zahlreichen Ansätze können im Rahmen dieser Abhandlung nicht gegeneinander abgewogen werden.

[4] Nur der repräsentative Charakter der meisten betroffenen Demokratien führte dazu, dass eine Parlamentsmehrheit gegen die Volksmehrheit agieren und vorübergehend eine liberale Flüchtlingspolitik durchsetzen konnte.

[5] Vgl. Pareto, Vilfredo (1896): Cours d‘Économie Politique, Professé à l’université de Lausanne, deux volumes , P. Rouge Lausanne; Pichon, Paris: Duncker & Humblot, Leipzig

[6] Baumol, William J. (1986): Superfairness: Applications and Theory, The MIT-Press, Cambridge, Massachusetts, S. 103 ff.

[7] Die Verlierer müssten so viel an Kompensation erhalten, dass sie durch die Maßnahme nicht schlechter gestellt werden. Dies war der Grundgedanke von Kaldor und Hicks. (Vgl. John R. Hicks (1939): The foundations of welfare economics. In: Economic Journal. Band 49, Nr. 196 und  Nicholas Kaldor (1939): Welfare Propositions of economics and interpersonal comparisons of utility. In: Economic Journal. Band 49, Nr. 195. Zu der Problematik gibt es weitere Vorschläge und logische Überlegungen u. a. von Scitovsky, Samuelson und Gorman, die aber an dieser Stelle nicht diskutiert werden müssen. Entscheidend  für unsere Betrachtung  ist der Grundgedanke der Kompensation der Verlierer einer Maßnahme. Kaldor und Hicks begnügten sich allerdings mit einer hypothetischen Kompensation. Es ging ihnen nur darum, die soziale Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme zu beurteilen, bei der es Verlierer gibt Damit haben sie den Verteilungs- und Fairness-Aspekt ignoriert, der  später bei Baumol und Rawls in den Vordergrund rückt.

[8] Auch Baumol betrachtet tatsächliche Kompensation als eine Bedingung für Fairness, weist aber darauf hin, dass die Kompensation der Verlierer die Effizienz der Gesamtlösung beeinträchtigen könnte. (Vgl. Baumol (1986), S. 101 ff.) Wir hätten es dann mit einer Ausprägung des bei vielen Problemen auftretenden Konflikts zwischen „equity and efficiency“ zu tun. Ich frage mich, ob dieser Konflikt nur darauf beruht, dass man den Wohlfahrtseffekt von Verteilungsänderungen ignoriert, kann dieser diffizilen Frage aber im vorliegenden Zusammenhang nicht nachgehen. (Vgl. Frage 1). Die Konkurrenzbeziehung zwischen Gerechtigkeit und Effizienz ist ein Thema, das die meisten Autoren früherer Jahrhunderte bis hin zu den Griechen wohl nicht gesehen bzw. angemessen berücksichtigt haben.

[9] Rawls, John (2006): Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Hrsg.: Erin Kelly. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S.78

 

[10] Es gibt dazu zahlreiche Publikationen beider Autoren zwischen 1979 und 2005. Ich nenne hier nur eine gemeinsame Publikation: Sen, Amarthya/Nussbaum, Martha  (Hg.) (1993):  The Quality of Life, Clarendon Press, Oxford . Hier verwenden sie den Begriff Lebensqualität, der besonders gut deutlich macht, worum es ihnen geht, nämlich keineswegs nur um Einkommen oder Vermögen, sondern um Wohlfahrt im Sinne von Lebensqualität. Dazu haben beide – leicht abweichend voneinander - ein System von Indikatoren erarbeitet, das Eingang in die UN-Indices der menschlichen Entwicklung und der mehrdimensionalen Armut gefunden hat. Auf dieses System werde ich im Zusammenhang mit der vorliegenden Flüchtlingsfrage zurückkommen.

[11] Nussbaum begründet ihren Ansatz mit einer Vorstellung vom Wesen des Menschen, aus dem sich ableiten lässt, welche Verwirklichungschancen („capabilities“) er haben sollte. Als Urvater dieser essentialistischen Denkweise führt sie Aristoteles an, womit wir eine Beziehung zwischen den neueren ökonomischen Ansätzen und der klassischen Philosophie hergestellt hätten. (Vgl. Martha Nussbaum (1988): Nature, Function and Capability: Aristotle on Political Distribution, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy (supplementary volume), 1988, 145–184 und Nussbaum, Martha (1992):Human Functioning and Social Justice. In Defense of Aristotelian Essentialism, in: Political Theory 20 (1992), S. 202-246.). Einen ähnlichen Ansatz finden wir z. B. bei Locke und Rousseau, die Freiheit und Menschenrechte als durch die Natur des Menschen gegeben betrachteten.

[12] Ein eindrucksvolles Beispiel für systemimmanente hohe ethische Anforderungen, deren Nicht-Erfüllung in der gesellschaftlichen Praxis dann dramatische Folgen haben, ist die Marx’sche Maxime ‚jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten‘. Nicht umsonst steht die These im Raum, dass der Kommunismus letztlich an der Mentalität der Menschen gescheitert sei. Auch die egalitären Strukturen im frühen Christentum konnten sich nur kurze Zeit halten.

 


 

Das Dunkle im Menschen – tiefenpsychologische Überlegungen zu

Hass Feindseligkeit und Gewalt

Vortrag von Prof. Ralf T. Vogel am Sa. d. 30.3.2019 in der VHS Chemnitz

Protokoll: Thea und Bruno  Johannsson

 

Der Redner begann mit dem Statement, dass zur Zeit ein Kulturkampf in der Bundesrepublik tobe. Deshalb komme es besonders auf die Fähigkeit an, Brücken zu bauen und Verständnis auch für die jeweils andere Position zu entwickeln. Wenn man die Position des anderen nachvollziehen kann, bleibt weniger Raum für das Dunkle in uns selbst, das Gewalt nach sich ziehen kann.

 

Die Tiefenpsychologie sei nur eine Methode, sich dem Problemfeld Gewalt und Hass zu nähern, auch soziologische und historische, sogar philosophische Theorien könnten eine Rolle spielen.

 

Die Tiefenpsychologie sei eigentlich keine Methode, sondern ein Theoriegebäude, mit dessen Hilfe man Methoden zu finden sucht, zumeist gehe es um eine Introspektion, bei der der Mensch selbst, meist mit Hilfe eines weniger involvierten Beobachters versucht, aus spontanen, unwillkürlichen Reaktionen bzw. Träumen einen Zugang zu verborgenen eigenen Impulsen und Bedürfnissen zu finden.

 

In westlichen Ländern scheinen zur Zeit die Affekte immer extremer zu werden. Auch in Kunst und Unterhaltung würden die Inhalte immer extremer, um die Menschen affektiv zu erreichen. Dabei sei Hass ein Gefühl, das beidseitiges Leid verursache, nicht nur beim Gehassten, sondern auch beim Hassenden selbst. Das Gefühl der Feindseligkeit sei immer mit einer empathischen und emotionalen Abwertung und Abschottung verbunden und enthalte auch eine Handlungskomponente.

 

Hass und Feindseligkeit gebe es als Potential bei allen Menschen. Hass sei eigentlich kein reines ursprüngliches Gefühl, sondern ein Konglomerat, dass sich aus verschiedenen grundlegenden Gefühlen zusammensetze: Zorn/Wut, Freude/Ekstase, Traurigkeit/Kummer, Ekel/Abscheu, Über-raschung/Erstaunen, Neugierde/Erwartung, Furcht/Panik.

 

Wie entsteht Hass? Er kann durch verschiedene Situationen und insbesondere durch die Kombination mehrerer Auslöser entstehen:

  • Als Folge des Gefühls des Ausgeliefertseins

  • Als Reaktion auf eine (vielleicht nur gefühlte) externe Bedrohung

  • Als Reaktion auf selbst erfahrenen Hass (wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück)

  • Als Distanzmacher (wenn man das Gefühl hat, durch zu viel Nähe erdrückt zu werden)

  • Als Konsequenz einer bestimmten Weltsicht, die sehr eindeutig in gut und böse aufteilt.

  • Als Abwehr von Scham und Verletzung

  • Als Möglichkeit der Identitätsversicherung (kann er zumindest zeitweise funktionieren): Wenn ich nicht weiß, wofür ich einstehe, kann ich zumindest schon sehen, wogegen ich bin.

Daumenregel I:

Hass und Feindseligkeit enthalten immer eine Angstkomponente.

 

Die Tiefenpsychologie bietet mehrere Ansätze zur Entstehung von Hass, die möglicherweise alle eine Rolle spielen:

  • Trriebtheorie – Hass durch Triebentmischung

  • Träume-Theorie (nach einer traumatischen Erfahrung, durch die die Person ihr Selbstbild verliert, kann es dies Gefühl sein, an das ihre Selbsterfahrung sich klammert)

  • Selbstwerttheorie. Das durch Scham oder Misserfolge verletzte Selbstwertgefühl, baut sich durch den Drang nach Bestrafung der Schuldigen wieder auf.

  • Schatten- und Netzwerk-Theorie

Auf die letzte Theorie ging der Referent dann näher ein. Jeder Mensch hat in sich Anteile, die er selbst so gründlich verdrängt hat, dass sie ihm gar nicht bewusst sind, schon gar nicht als Komponenten der eigenen Persönlichkeit. Dieser Anteil, auch „Schatten“ genannt, wird, wenn man ihn überhaupt bemerkt, zunächst als völlig fremd empfunden. (Ich erkenne mich selbst – bzw. die bekannte Person – überhaupt nicht wieder. Zu dieser Abspaltung eigener Persönlichkeitsanteile kommt es zumeist in der Kindheit, wenn das Kind zur Übernahme der Elternperspektive gezwungen wird (weil es andernfalls fürchten muss, deren Liebe zu verlieren). Der Schatten, die Verdrängung hat immer eine Achse der Kollektivität. Wir spalten das ab, was für unsere Bezugsgruppe, Familie, selbstgewählte Gruppe, Nation nicht akzeptabel scheint.

 

Wenn wir unserem Schatten, sei es in uns selbst, sei es in anderen Personen begegnen, kann es zu unterschiedlichen Gefühlsregungen kommen.

  • Faszination (weil jemand wagt, das auslebt, was wir in uns immer unterdrückt haben)

  • Neugier (Ist das wirklich auch eine lebbare Möglichkeit?)

  • Das Gefühl intensiver Getriebenheit (Wenn der Schatten in einem selbst durchbricht, erlebt man sich als ohnmächtig, fremdgesteuert)

  • Hass, Ekel (wenn die im Innern aufgerichteten Barrieren stark sind)

  • Sympathiebegegnung (die reifste Möglichkeit, wenn man sich mit diesem Teil seiner selbst auseinandersetzen kann, ohne ihn gleich zu verdammen, evtl. ihm einen Platz im Selbstbild einräumen kann)

Mögliche Umgangsweisen mit dem Schatten sind Verdrängen (das gibt es bei mir nicht), Delegieren (andere sollen das ausführen, was ich selbst nicht zu tun wage), Infektion, Symbolisieren (Teufel und Dämonen, Hexen, gefährliche Tiere), Projektion (meine nicht eingestandenen Gefühle und Bedürfnisse anderen unterstellen).

 

Als Projektionsflächen eignen sich besonders gut Fremdes (je weniger ich den anderen kenne, desto leichter wird es, ihm etwas zuzuschreiben), bereits gesellschaftlich Abgewertetes (dann brauche ich kaum Widerspruch zu fürchten), Schwaches (das sich nicht wehren kann). Daher ist Schattenprojektion ein primärer Mechanismus bei Fremdenfeindlichkeit. Diese Projektion wirkt auch auf die „Projektionsfläche“, zunächst entsteht eine Identitätsverunsicherung, schließlich kann derjenige dazu gebracht werden, sich so zu verhalten, wie man es von ihm erwartet, sich also selbst mit der Projektion zu identifizieren (vgl. Max Frisch: Andorra)

 

Daumenregel II

Wenn jemand unseren Schatten verkörpert, führt das zumeist zu Ablehnung.

 

Daumenregel III

Es kommt darauf an, dass wir auch für unsere negativen (oder als negativ empfundenen) Teile die Verantwortung übernehmen.  (Vielleicht haben unsere Eltern tatsächlich Fehler gemacht, aber als Erwachsene müssen wir lernen, auch mit diesen Ergebnissen umzugehen)

 

Als konstruktive Umgangsweisen mit den eigenen Schatten wie mit der Kindererziehung schlug der Referent vor:

  • Die Angst vor den eigenen Schattenanteilen abbauen

  • Frühes Empathietraining

  • Reduzieren der möglichen Projektionsflächen (Fremdes kennenlernen)

  • Sich eingestehen und daran erinnern, dass man selbst seine Schatten hat: memento umbra!

  • „Mit sich selbst zusammenleben“. (Nach Möglichkeit den eigenen Schatten sinnvoll integrieren, sich zumindest nicht selbst wegen seiner Existenz verdammen – und ihn darum im Blick behalten können)

 


 

Thea und Bruno Johannsson

 

Plädoyer für eine global-solidarische Flüchtlingspolitik

Beitrag zur UN-Konferenz über den UN-Pakt für Flüchtlinge

 

In Anbetracht von mehr als 68 Millionen Menschen auf der Flucht, den anhaltenden Fluchtursachen Verfolgung, Konflikt, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen und der an Bedeutung gewinnenden Fluchtursache Klimawandel ergeben sich dringende Aufgaben zur Beseitigung der gegenwärtigen und zur Abwendung einer möglicherweise größeren zukünftigen  humanitären Katastrophe. Da es sich um ein globales Phänomen handelt, liegt es nahe, auch nach einer globalen Lösung Ausschau zu halten. Nationalstaaten und Gruppen von Staaten wie die Europäische Union können auch bei besten Absichten nur Stückwerk leisten. Hinzu kommt, dass gerade die reicheren Staaten sich eher zurückhalten bzw. wie die Europäische Union zutiefst zerstritten und damit nahezu handlungsunfähig sind.

 

Bevor man über eine flüchtlingspolitische Zielsetzung nachdenkt, bedarf es einer Verständigung über die kurz- und mittelfristig als gegeben zu betrachtenden Rahmenbedingungen flüchtlingspolitischen Handelns. In dem genannten Zeitrahmen muss man davon ausgehen, dass sich die Struktur der oben genannten Fluchtursachen nicht nennenswert ändert. Zu klären wäre, welchen Einfluss der Klimawandel mittel- und langfristig auf Fluchtbewegungen haben könnte. Als mittelfristig stabil muss man auch die politische Struktur der globalen Gesellschaft betrachten. Auch wenn sich einzelne Länder  demokratischen Formen annähern sollten, so ist doch die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich andere Länder von diesen entfernen, sodass sich der weltweite Demokratieindex nicht nennenswert verschiebt. Neben diesen natürlichen und sozialen Rahmenbedingungen gibt es noch die von der Staatengemeinschaft selbst gesetzten conditiones sine qua non wie z. B. die Menschenrechtscharta der UN und die Genfer Flüchtlingskonvention. Auch die Souveränität aller UN-Mitgliedstaaten dürfte ein hoch eingestuftes Prinzip sein, obwohl es hier in der Vergangenheit durch Blauhelmeinsätze und ähnliche Maßnahmen bereits Einschränkungen gegeben hat.

 

Das Ziel einer globalen Flüchtlingspolitik ist mehrdimensional, d. h. wie bei fast allen politischen Aufgaben handelt es sich um ein System aus Ober- und Unterzielen. Als – relativ abstraktes - Oberziel bietet sich eine Steigerung der globalen Wohlfahrt durch flüchtlingspolitische Maßnahmen an. Ein solches Oberziel dient als Orientierung, wenn es darum geht, Konflikte zu lösen, bei denen es Gewinner und Verlierer gibt.[1] Unterziele dazu sind die Einsparung von Ressourcen durch frühzeitige Erkennung und Rückführung der Scheinflüchtlinge, die bessere und gleichmäßigere Versorgung aller echten Flüchtlinge, eine gleichmäßigere Lastenverteilung unter den Aufnahmeländern, die Verhinderung des Ausblutens der Herkunftsländer und die Bekämpfung aller Formen der Korruption und Kriminalität im Zusammenhang mit Fluchtprozessen. Zwischen den Unterzielen gibt es außer Synergien und Kompatibilitäten leider auch Konflikte, deren Lösung höchste Anforderungen an die internationale Solidarität stellt.

 

Für eine globale Lösung bietet sich vor allem die UNO als federführende Organisation an. Unter ihrem Dach sollten möglichst alle Nationalstaaten und Nicht-Regierungs-Organisationen kooperieren. Es ist sehr erfreulich, dass die UNO die Zeichen der Zeit erkannt und den Kommunikationsprozess über einen globalen Pakt für Flüchtlinge (Global Compact for Refugees) in Gang gesetzt hat. Dieser Artikel ist als knapp gehaltener Beitrag zu diesem Prozess gedacht. Die Autoren haben zu der Problematik in mehreren Büchern und zwei Radiosendungen publiziert.[2]

 

Die Schlüsselrolle bei der Minderung der humanitären Missstände möchten wir gern UNCR übertragen. Diese Organisation spielt zwar jetzt schon eine bedeutende Rolle, hat aber mit ihrem Budget  von weniger als 10 Mrd. Dollar jährlich nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Verlässliche Schätzungen der jährlichen Ausgaben für Flüchtlinge aller Nationalstaaten liegen uns zwar nicht vor, wir gehen aber von einem Vielfachen des UNHCR-Budgets aus. Diese Ressourcen bedürfen einer besseren Bündelung und müssten möglicherweise beträchtlich ausgeweitet werden, um das Ende der gegenwärtigen Missstände herbeizuführen und schlimmere in der Zukunft zu verhindern.

 

Durch eigene Forschungen und nicht zuletzt durch Publikumskontakte bei einer Veranstaltungsreihe, die wir durchgeführt haben, sind wir zu einem in sich schlüssigen, langfristig angelegten Konzept gekommen, dessen Anwendung unter den genannten Rahmenbedingungen[3] eine Annäherung an das formulierte Zielsystem herbeiführen könnte. Die Kurzfassung dieser Strategie umfasst die folgenden zwölf Punkte:

 

  1. Schutzrechte weltweit nach einheitlichen Grundsätzen erteilen, Rechte und Pflichten von Schutzrechtsinhabern einheitlich regeln!

  2. Naturkatastrophen und Klimawandel als Fluchtursache anerkennen!

  3. Ein unabhängiges Forschungsinstitut „Globale Fluchtbewegungen (GF)“ gründen! Dieses Institut erstellt ein globales Kataster der sicheren und unsicheren Regionen bzw. Staaten, betreibt ein Frühwarnsystem für Fluchtbewegungen und dient als Gutachter in den Schutzerteilungsverfahren.

  4. Einheitliche Behandlung von Binnenvertriebenen und grenzüberschreitend Flüchtenden anstreben!

  5. Für alle Menschen auf der Flucht: Grundversorgung und Schutzerteilungsverfahren in Sicherheitszonen so nah wie möglich an der Problemregion!

  6. Im Falle der Bedrohung einer Sicherheitszone durch unsichere Nachbarregionen: Militärischer Schutz durch die Staatengemeinschaft!

  7. Bei anhaltender Fluchtursache: Ausbau der Sicherheitszonen zu Asylkommunen, die eine menschenwürdige Lebensqualität inkl. Arbeit und Ausbildung gewähren!

  8. Alle Schutzsuchenden, denen das Gericht keinen Schutzstatus zubilligt, in ihre Herkunftsregion unter UNHCR-Regie zurückführen!

  9. Wenn die Kapazität ortsnaher Asylkommunen nicht ausreicht, Schutzrechtsinhaber nach einem an der Leistungsfähigkeit der Nationen orientierten Schlüssel auf alle Industriestaaten und Schwellenländer verteilen! Diese tragen die Kosten von Transport, Integration und Rückführung.

  10. Als Grundsatz gilt die temporäre Integration, sei es in eine sichere Asylkommune oder ein ferneres Aufnahmeland.

  11. Es wird ein maximaler Zeitraum global einheitlich festgelegt, innerhalb dessen Schutzrechtsinhaber in die Herkunftsregion zurückgeführt werden, sofern diese Sicherheit erreicht hat. Nach diesem Zeitraum erhalten sie die Option Bürgerrecht in einem Aufnahmeland, aber auch Anreize zur Rückkehr.

  12. Das UNHCR-Budget nicht mehr durch Spenden sondern durch Pflichtbeiträge aller UNO-Mitgliedstaaten finanzieren. Rechnungsprüfung und Zerrtifizierung von UNHCR  erfolgen jährlich durch obiges unabhängiges Forschungsinstitut.

 

Eine derart an Gegenwart und Zukunft angepasste global-solidarische Flüchtlingspolitik (gsFP) würde aus der Sicht potentieller Flüchtlinge zu einer Minimierung von falschen Fluchtentscheidungen, Fluchtwegen, Fluchtrisiken, Fluchtkosten, Schlepperaktivitäten, Wartezeiten auf Asylverfahren, Zeitverschwendung in Lagern und Aufnahmeländern, Identitäts- und Anpassungsproblemen und Ausweichflucht führen.

 

Aus der Sicht der Aufnahmeländer würde die gsFP zu einer besseren Kalkulierbarkeit und Vorhersehbarkeit der Kosten, zu drastisch weniger Asylverfahren, zu größerer innerer Sicherheit, zu einer geringeren Bedrohung nationaler Identität, zu weniger Sozialbetrug und zu sehr viel weniger Rückführungsproblemen führen. Von diesen Vorteilen würden die Bürger all dieser Staaten profitieren und daraus eine größere Motivation entwickeln, damit der von jedem Staat geforderte faire Anteil auch wirkungsvoll erbracht wird.

 

Die teilweise dramatische Ausblutung der Herkunftsländer und die Erschwerung ihrer Normalisierung würde vermindert und durch die beste Art von Entwicklungshilfe ersetzt, nämlich durch die Stärkung und Bildung der Menschen auf der Flucht, die dieses Potential dann in ihr Heimatland einbringen. Wie wichtig dieser in der bisherigen Diskussion eher vernachlässigte Gesichtspunkt ist, erkennt man z. B. daran, dass sich gegenwärtig mehr als die Hälfte aller syrischen Staatsbürger auf der Flucht befindet.

 

Last but not least würde sich Flucht langfristig günstig auf die Völkerverständigung auswirken, weil die Rückkehrer Erfahrungen mit fremden Kulturen gemacht hätten, ohne ihre eigene Identität aufzugeben bzw. in unnötige Identitätskonflikte zu verfallen.

 

Durch den Abbau von Verschwendung auf mehreren Ebenen und die Erhöhung des Nutzens vieler betroffener Menschen, Regionen und Staaten könnte die Wohlfahrt der Nationen erheblich gesteigert werden.

 

Auch wenn der Weg zur Umsetzung einer global-solidarischen Flüchtlingspolitik weit ist und Jahrzehnte beanspruchen könnte, so ist es doch heute schon von Bedeutung, die flüchtlingspolitischen Weichen richtig zu stellen, zumal der Klimawandel neue und überraschende flüchtlingspolitische Herausforderungen mit sich bringen könnte. Auf dem Weg zum Fernziel könnten sich Bündnisse der Willigen bilden und zumindest einen Teil der oben genannten Grundsätze realisieren. Die demokratischen Staaten der Erde sind hier besonders gefordert, wenn sie sich nicht vorwerfen lassen wollen, dass bei ihnen die Menschenrechte inkl. dem Recht auf Asyl nur auf dem Papier stehen.

 



[1] In der ökonomischen Wohlfahrtstheorie gibt es schon seit Jahrzehnten kontroverse Diskussionen, ob man Wohlfahrtsänderungen messen kann und wenn ja mit welchen Indikatoren. Dabei steht jeweils eine einzelne Gesellschaft bzw. Volkswirtschaft im Mittelpunkt der Betrachtung. Sehr viel komplexer wird die Fragestellung, wenn man die Änderung der globalen Wohlfahrt messen möchte und dabei nicht nur Individuen sondern auch Nationen in die Betrachtung einbezieht.

[2] Vgl. Johannsson, Bruno (2017). Flucht – eine globale Herausforderung. Wege im Dilemma, Twentxsix, Norderstedt. Hier findet sich eine ausführliche Herleitung und Begründung des Konzepts einer global-solidarischen Flüchtlingspolitik insbesondere in ethischer und ökonomischer Hinsicht.

Johannsson, Bruno (2018): Flüchtlingspolitisches Manifest. Die Thesen, Fragen und Vorschläge aus „Flucht – eine globale Herausforderung“, Twentysix, Norderstedt,

Johannsson, Thea und Bruno (2017): Spielregeln der Gesellschaft. Was uns zusammenhält und auseinandertreibt, Philosophische Dialoge in der Edition Sokrates Band 1, BoD, Norderstedt, S. 174-231

Johannsson, Thea und Bruno (2016): Die Flüchtlingsfrage, Dialog und Interview mit Helmuth Müller bei Radio Darmstadt, https://gegendasvergessenlebensarbeit.podspot.de/post/thea-und-bruno-johannsson-die-fluechtlingsfrage-i-dialog-lap-105/

[3] Zu den juristisch-ethischen Rahmenbedingungen gehört wie oben erwähnt die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Wir haben uns intensiv mit ihr befasst und sind zu dem Schluss gekommen, dass unser Konzept einer global-solidarischen Flüchtlingspolitik (gsFP) mit ihr kompatibel ist. Das letzte Urteil darüber würden wir gern Juristen überlassen. Sollten Unvereinbarkeiten diagnostiziert werden, müsste über eine Reform der GFK und/oder eine Modifikation der gsFP nachgedacht werden.

 

 


 

Bruno Johannsson

Die Hebammenmethode modifiziert

Essay

auch veröffentlicht als Exkurs in Thea und Bruno Johannsson: Spielregeln der Gesellschaft. Was uns zusammenhält und auseinandertreibt. Philosophische Dialoge, Editions Sokrates 1, Bod, Norderstedt, 2017, S.

 

Sokrates (499-369 v. Chr.) gehört zu der nicht allzu großen Zahl bedeutender Denkern, deren historische Existenz wir zwar annehmen, von denen wir aber keine Originalschriften überliefert haben. In seinem Fall stützen wir uns insbesondere auf seinen Schüler Platon, der bei seiner Denk- bzw. Schreibmethode möglicherweise von seinem Lehrer inspiriert wurde. Wir sprechen vom sokratischen Dialog und denken z. B.an Diotima, die Platon in seinem Symposion  in einen Dialog über den Eros mit Sokrates treten lässt.[2] In diesem Gespräch ist Sokrates der trächtige Partner und Diotima die Hebamme, die ihm Geburtshilfe beim Hervorbringen wahrer Erkenntnis über den Eros leistet. Die Hebammenkunst kommt gewissermaßen fiktiv  bzw. nach Platons Erinnerung bei ihrem Erfinder zur Anwendung.

Die von Platon fiktiv angewandte Dialogmethode erweckt beim Leser den Eindruck, in den Prozess der Erkenntnis hineingenommen zu werden. Allerdings gibt es bei Platon meist einen überlegenen Gesprächspartner, der den anderen indirekt belehrt, indem er ihn durch ein geschicktes Frage- und Antwortspiel möglichst selbst die Wahrheit finden lässt, die der überlegene Partner vorher schon erkannt hatte. Im Unterschied zu dieser Vorgehensweise legen wir Wert auf die Gleichberechtigung der Gesprächspartner. Das resultiert daraus, dass wir uns tatsächlich gleichberechtigt fühlen. Die von Platon fingierte und von Sokrates möglicherweise praktizierte Gesprächssituation zwischen einem lehrenden und einem lernenden Partner müssten wir spielen, was reizvoll wäre aber nicht unsere Absicht ist. Ein bekanntes Beispiel für gleichberechtigte Dialogpartner sind Karl R. Popper (1902-1994) und John C. Eccles (1903-1997), der Philosoph und der Neurobiologe. Sie haben am Ende ihres Buches „Das Ich und sein Gehirn“ zwölf Dialoge publiziert, die live auf Spaziergängen auf dem Gelände der Villa Serbelloni am Comer See durchgeführt wurden.[3] Dabei handelt es sich um Gespräche auf Augenhöhe. Der Philosoph respektiert den Einzelwissenschaftler und umgekehrt. Bei diesen Gesprächen versuchten Popper und Eccles insbesondere die zwischen ihnen noch bestehenden Kontroversen auszuräumen

Unsere Methode hat weitere Vorbilder und Ähnlichkeiten. Sie steht in einer gewissen Beziehung zur Disputation, wie sie z. B. zwischen Martin Luther und Johannes Eck als Hauptkontrahenten im Jahre 1519 in Leipzig stattfand. Abgesehen davon, dass hier mehr als zwei Gesprächspartner im Spiel waren, bestand ein weiterer Unterschied zu unserer Methode darin, dass es um ein Streitgespräch und damit um Sieger und Verlierer ging.[4]  Thea und ich wollen uns aber nicht streiten, sondern gemeinsam etwas erarbeiten. In diesem Sinn ist unser Dialog konstruktiv. Es gibt keine Defensiv- bzw. Offensivhaltung der Partner. Man könnte von einer gleichberechtigten Hebammenmethode sprechen: Zwei mit Erkenntnis schwangere Menschen helfen sich wechselseitig bei deren Hervorbringung. Obwohl Popper und Eccles in den oben genannten Dialogen eine Reihe von Kontroversen zu bearbeiten hatten, waren es doch nicht wirklich Streitgespräche, zumal sie von langjährigen Freunden geführt wurden. Auch wir haben kontroverse Standpunkte, obwohl – oder weil? – wir schon jahrzehntelang befreundet sind. Dies schließt aber nicht aus, dass man sich auf eine gemeinsame konstruktive Suche nach der Wahrheit begibt.

Eine weitere Besonderheit der von uns praktizierten Dialogmethode besteht darin, dass sie thesenorientiert ist. Eine relativ kurze, sorgfältig abgewogene Aussage wird von einem Dialogpartner als These formuliert. Eine solche Verfahrensweise ist keine Selbstverständlichkeit. Das Denken in Thesen ist in der heutigen Wissenschaft nicht allzu weit verbreitet. Eine der wenigen mir bekannten Publikationen ist die Allgemeine Wirtschaftspolitik von Herbert Giersch von der ich schon zu Beginn meines Studiums besonders angetan war.[5] Giersch geht soweit, dass er die Begründung seiner Thesen in Argumente und teilweise sogar in Unterargumente gliedert.[6] Eine andere indirekte Form, in Thesen zu denken, hat Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seiner logisch-philosophischen Abhandlung praktiziert. Er hat 6 Sätze aufgestellt und durch exakt nummerierte und teilweise bis zur 5. Ebene strukturierte Untersätze begründet. Die jeweils ersten Sätze der sieben Kapitel kann man als Thesen betrachten. Nur der 7. und letzte Satz der ganzen Abhandlung hat keine begründenden Untersätze, was sich logisch aus seinem Inhalt ergibt: „Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen.“[7] Übrigens sehen auch wir  die Grenzen unserer gemeinsamen Wahrheitsfindung, darin, dass sich  manche Bereiche der Wirklichkeit unserer Sprache entziehen. Auch im Dialog können wir das Unaussprechliche nur umkreisen.

Nicht von ungefähr bewegt sich Wittgenstein im Umfeld von mathematischen Methoden. Auch der mathematische Beweis hat den Charakter eines Denkens in Thesen: Die Behauptung des Theorems wie z. B. des Satzes von Pythagoras, steht am Anfang, gewissermaßen als These. Was danach kommt, sind strukturierte, begründende Überlegungen. Wie Wittgenstein bin auch ich der Meinung, dass man mit der Verbalsprache ähnlich präzise umgehen kann, wie mit der mathematischen Symbolsprache. In unseren Dialogen streben wir dies aber nur in Grenzen an, und zwar indem wir uns um Definitionen der in der These verwendeten Begriffe bemühen, was im heutigen Wissenschaftsbetrieb eher verpönt ist. Nachdem die Begriffe  einigermaßen geklärt sind, wird unser Dialog mehr zu einem spontanen Umkreisen der These mit dem Versuch, sie plausibel zu machen, zu begründen, zu modifizieren oder gar zu Fall zu bringen. Dies ist im Gegensatz zu einer Monographie bei einem Live-Dialog kaum anders realisierbar.

Damit sind wir bei dem letzten Merkmal unserer Methode. Das gemeinsame Abklopfen der These auf ihre Haltbarkeit erfolgt in zwei Phasen. Der Kritikphase ist ausdrücklich eine Verständnisphase vorgeschaltet, damit die Partner möglichst wenig aneinander vorbeireden, was in heutigen Diskussionsformaten häufig vorkommt, zumal sie eher selten als echte Dialoge strukturiert sind. Bei der Verständigungsphase geht es häufig um Definitionen bzw. Umschreibungen der wichtigsten Begriffe der These  Wie wichtig das sein kann, haben auch Popper und Eccles im Vorwort des oben genannten gemeinsamen Werkes an Hand des  Leib-Seele-Problems erläutert. Man würde dieses völlig anders sehen müssen, wenn man Seele im Sinne des englischen „soul“ anstatt des Terminus „mind“ meinen würde.[8] Durch mehr oder weniger exakte Umschreibungen kann man solche Missverständnisse vermeiden. Ansonsten stimmen wir mit Popper und Eccles voll und ganz überein, wenn sie formulieren: „Was uns interessiert, ist nicht die Bedeutung von Begriffen, sondern die Wahrheit von Theorien; und diese Wahrheit ist von der verwendeten Terminologie weitgehend unabhängig.“[9]

Auch in der Kritikphase gibt es nicht zwingend eine Defensiv- und eine Offensivhaltung der Dialogpartner. Beide prüfen den Wahrheitsgehalt der These, wobei häufig lebensnahe Beispiele herangezogen werden, um die These zu testen. Dabei kann der Thesensteller auch Selbstkritik üben und seine These in Frage stellen bzw. modifizieren bzw. ganz fallen lassen. Zumindest Modifikationen hat es im Laufe unserer inzwischen mehr als dreißig Dialoge eine ganze Reihe gegeben. Mitunter wurde die These von demjenigen, der sie gestellt hat, auch von vornherein als Versuchsballon bezeichnet, worin die Offenheit der gesamten Diskussion zum Ausdruck kommt.

Im Gegensatz zu Platon sind unsere Dialoge nicht schriftstellerisch fingiert, sondern haben wie bei Popper und Eccles live stattgefunden. Sie wurden auf Band aufgenommen, digitalisiert und anschließend leicht geglättet. Wir wollten dem Leser nicht alle „Ehs“, „Alsos“, abgebrochenen Sätze und anderen Unzulänglichkeiten der spontanen Sprache zumuten. Außer bei Radio Darmstadt fanden die Dialoge in mehreren Sessionen statt, deren Datum jeweils genannt wird. Wenn diese Sessionen mitunter Wochen oder gar Monate auseinanderliegen, so hatte dies gesundheitliche oder andere Gründe aus unserem Leben. Wir haben dann den bisherigen Textstand durchgelesen, um nahtlos an ihn anzuknüpfen zu können.

Zusammenfassend möchte ich unsere neo-sokratische Methode als gleichberechtigten, konstruktiven und zweiphasigen Dialog über eine These bezeichnen. Wir haben dieses Verfahren als sehr hilfreich beim Hervorbringen neuer Erkenntnisse erlebt und hoffen, dass sich der Leser gelegentlich zum Mitphilosophieren bewegen lässt und eigene Erkenntnisse erlangen kann, die nicht unbedingt mit unseren übereinstimmen müssen.



[1] Abgedruckt in Johannsson, Thea und Bruno (2017): Spielregeln der Gesellschaft. Was uns zusammenhält und auseinandertreibt, Philosophische Dialoge, Edition Sokrates 1, BoD, Norderstedt, S. 232-237

[2] Vgl. Platon: Das Trinkgelage oder über den Eros., Übertragung, Nachwort und Erläuterungen von Uwe Schmidt-Berger, insel-taschenbuch 681, 1. Aufl., Insel Verlag, Frankfurt a. M., 1985,  S.64-83. Dieser Dialog endet allerdings mit einem längeren Monolog Diotimas, was ihre überlegene Haltung unterstreicht.

[3]Vgl. Popper, Karl. R./Eccles, John C. (1977/2005): Das Ich und sein Gehirn. 5. deutsche Auflage, Piper, München-Zürich, S. 505-665

[4] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Leipziger_Disputation/

[5] Giersch, Herbert: Allgemeine Wirtschaftspolitik, Gabler Verlag, Wiesbaden, 1962

[6] Vgl. z. B. Giersch a. a. O. S. 260 ff.

[7] Wittgenstein, Ludwig (1921/1963: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, edition suhrkamp 12, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., S. 115.

[8] Vgl. Popper/Eccles (19772005)  a. a. O. S.15

[9] Vgl. Popper/Eccles (1977/2005) a. a. O. S. 14.  Hier möchte ich anmerken, dass verschiedene Terminologien allerdings unterschiedlich leistungsfähig bei der Darstellung und Überprüfung von Theorien sein können, sodass es Sinn macht, nach der bestmöglichen sprachlichen Darstellung Ausschau zu halten. Im Übrigen sehen wir hier einen Gegensatz in der Vorgehensweise zwischen Popper/Eccles einerseits und Wittgenstein andererseits. Unsere Dialogmethode liegt irgendwo dazwischen. Mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Erkenntnis befassen wir uns ausführlich im 2. Band unsere philosophischen Dialoge (vgl. Anhang).

 


 

Bruno Johannsson

Wohlwollen und Wohlfahrt -zwei Seiten einer Medaille

Essay

auch veröffentlicht als Exkurs in Bruno Johannsson: Flucht – eine globale Herausforderung. Wege im Dilemma,

Edition Aquin 1, Twenty Six in der Gruppe Random House, Norderstedt, 2017, S. 306 ff.

 

Die philosophische und theologische Ethik bieten eine Vielzahl von teilweise kontrovers diskutierten Paradigmen an, mit denen man die vorliegenden Fragestellungen analysieren könnte, wobei ich im Vorhinein nicht überblicken konnte, als wie operabel sich ein bestimmter Ansatz für meine Problematik erweisen würde. Ich habe deshalb die beiden Paradigmen ausgewählt, die mir besonders vertraut sind und mit deren Operabilität bei der praktischen Anwendung ich gute Erfahrungen gemacht hatte: Eines davon ist in der philosophischen Literatur als Utilitarismus in verschiedenen Varianten bekannt. Ich benutze die in der Ökonomie verbreiteten Ansätze der Nutzen- bzw. Wohlfahrtstheorie für das Individuum bzw. die Gesellschaft. Auch mit diesen normativen Theorien sind eine Reihe diffiziler Probleme wie z. B. das der Nutzen- bzw. Wohlfahrtsmessung verbunden, die ich aber umschiffen kann. Ich begnüge mich mit der einfachsten und auch allgemein verständlichen Form dieser Konzepte. Wie sich zeigen wird, sind diese viel flexibler und allgemeiner interpretierbar als vielleicht mancher Ökonom und Nicht-Ökonom ahnt. Sie haben in der Tat eine philosophische Dimension und - wie sich zeigen wird - eine erstaunliche Nähe zu einem Konzept, das wir normalerweise der Theologie zuordnen, nämlich zu dem der Liebe im Sinne von Wohlwollen als ethischem Prinzip. 

Eine Beschränkung auf zwei ethische Paradigmen erscheint mir angebracht und vertretbar, da es hier um die Anwendung ethischer Ansätze auf ein bestimmtes Problem und nicht um die Vor- und Nachteile der einzelnen Konzepte geht. Es ist folglich gar nicht ausgeschlossen, dass jemand mit einem anderen Ansatz zu anderen Schlüssen gelangt. Es ist auch ex ante nichts über den relativen Wert der hier benutzten Paradigmen gesagt. Beide werden auch wie erwähnt nur in einer reduzierten Form angewendet, die ich in den folgenden Ausführungen skizzieren möchte. 

Ein besonderer Grund für die Auswahl der christlichen Liebesethik für diese Analyse liegt darin, dass in der öffentlichen Diskussion z. B. in Deutschland immer wieder auf die Traditionen des christlichen Abendlandes verwiesen wird, die  z. B. gegen den Islam zu verteidigen seien. Auch war das Verhalten der deutschen Bundeskanzlerin in der Frühphase der Flüchtlingskrise 2015/16 auf ungewöhnliche Weise von einer Art kategorischem Barmherzigkeitsimperativ geprägt. Der Wert bzw. die Tugend der Barmherzigkeit wiederum wird häufig in engem Zusammenhang mit dem Christentum gesehen. (Er spielt allerdings auch im Koran eine herausragende Rolle). Damit steht u. a. die Frage im Raum, in wie weit das Verhalten von Angela Merkel als christlich eingestuft werden darf, zumal sie aus einem Elternhaus stammt, in dem christliche Barmherzigkeit auf bemerkenswerte Weise praktiziert wurde. 

All diese aktuellen Aspekte aus der Flüchtlingskrise 2015/16, wie sie sich in Deutschland dargestellt hat, wären noch kein ausreichender Grund, sich für die Liebesethik als Messlatte für das Verhalten in Flüchtlingsfragen zu entscheiden. Der uneingeweihte Laie wird auch sofort einwenden, dass es gar nichts Vageres als Liebe gibt. Ihm sei geantwortet, dass die im christlichen Umfeld zentrale Überlieferung, nämlich die Bibel, im Matthäus-Evangelium, Kapitel 22, Verse 37 bis 40 berichtet, dass Jesus Christus selbst das Liebesgebot als das  bezeichnet hat, in dem „das ganze Gesetz samt den Propheten“ enthalten ist. Philosophisch gesprochen hat er damit das Liebesgebot als obersten ethischen Satz deklariert, in dem alle anderen Gebote enthalten sind bzw. aus dem sie abgeleitet werden können. Paulus greift diesen Gedanken auf und bezeichnet die Liebe als die Quelle aller Tugenden und damit indirekt als die höchste Tugend. Nun kann ich mich im Rahmen dieses Buches nicht auf eine Diskussion über die theologisch-philosophische Tragweite dieser Statements einlassen. Tatsache ist, dass sich diese Sichtweise über die mittelalterliche Scholastik (z. B. bei Thomas von Aquin) bis in die Gegenwart (z. B. bei Eugen Drewermann) hinein als spezifisch christlich gehalten hat. 

Mir hat sich die Frage gestellt, wie man Liebe so definieren kann, dass das Ergebnis sowohl den biblischen Texten genügt als auch eine gewisse Operabilität bei der Anwendung auf Flüchtlingsfragen aufweist. Als Arbeitsdefinition biete ich an: Liebe (im christlichen Sinn) ist eine Einstellung, bei der der Liebende das Wohl des Geliebten will. Der bzw. die bzw. das Geliebte kann Gott (Gottesliebe), ein anderer Mensch (Nächstenliebe), die eigene Person (Eigenliebe), ein Tier (Tierliebe), eine Pflanze usw. sein. Um die vorliegende Arbeit nicht mit theologischen Fragen zu belasten, spare ich bei der gesamten Betrachtung die Gottesliebe aus, obwohl sie nach der Überlieferung von Jesus an erster Stelle genannt wird, was eine tiefe Berechtigung hat, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Ich beschränke mich auf den Satz ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘, wobei der Nächste nach einer weiteren Aussage von Jesus auch ein Feind sein kann, also jemand, der dem Liebenden schaden möchte. Da folglich jeder vertraute oder auch fremde, freundliche oder auch feindliche Mensch der Nächste sein kann, impliziert diese radikale Sichtweise die Liebe zu allen Menschen, eine allumfassende Liebe. Während Jesus im Liebesgebot auf die Einstellung abstellt, findet er am Ende der Bergpredigt eine handlungsorientierte Formulierung, die als die goldene Regel bekannt ist und von ihm dem Liebesgebot indirekt gleich gestellt wird: „Alles also, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen. Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“(Matthäus-Evangelium, 5. Kapitel, Vers 12 in der Einheitsübersetzung). Dieses ethische Konzept halte ich nicht nur in christlicher sondern auch in atheistisch-humanistischer Hinsicht für äußerst relevant und produktiv, womit auch der nicht-religiöse Leser Gewinn von diesem Buch haben könnte. 

Wenn ich meine obige Definition von Liebe auf den Bibeltext in Matthäus 5 anwende, so lautet dieser: ‚Du sollst das Wohl deines Nächsten so wollen wie du auch dein eigenes Wohl willst‘. Diese Maxime schließt ebenso wie die goldene Regel die Eigenliebe keineswegs aus, sondern erhebt sie sogar als das Selbstverständliche und Naheliegende zum Maßstab für die Nächstenliebe. Sie fordert einen Ausgleich zwischen dem Eigenwohl und dem Wohl der Umwelt und erteilt damit dem Egoismus und einem (falsch verstandenen) Altruismus eine Absage. [1]Für manchen Leser mag es nun erstaunlich sein, dass dieses christliche Liebeskonzept in Verbindung gebracht werden kann mit der ökonomischen Nutzen- bzw. Wohlfahrtstheorie.[2] Bei dieser handelt es sich um die Vorstellung, dass das rational handelnde Individuum diejenige Handlungsalternative wählt, von der es sich den größten Nutzen verspricht. Ein solches Verhalten würden wir bei oberflächlicher Betrachtung als egozentrisch, ja sogar egoistisch bezeichnen und im Gegensatz zu obiger Liebesmaxime sehen, die ja einen Ausgleich zwischen dem eigenen Nutzen und dem des Nächsten anstrebt. Unter einer bestimmten Bedingung fallen die beiden Ansätze jedoch zusammen, nämlich wenn der Nutzen des Nächsten auch eine Quelle für den eigenen Nutzen ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn das Leid und der Schaden eines anderen Menschen das eigene Glücksempfinden beeinträchtigt und damit den eigenen Nutzen senkt. Wer auf diese Weise mit seinen Mitmenschen emotional verbunden ist, gewissermaßen Empathie empfindet, wird den Wunsch haben, ihnen in ihren Problemen zu helfen. Auf das Flüchtlingsproblem angewandt bedeutet dies, dass er bereit ist Opfer an Geld und/oder Zeit und/oder Kraft und/oder Sicherheit usw. zu bringen, um das Los von Flüchtlingen zu lindern. Er muss evtl. die Ausübung eines Hobbys einschränken. Er tut es aber, weil er sich dabei wohler fühlt. Damit haben wir mitten in diesem scheinbar egoistischen Denken des Nutzenmaximierers genau den  Ausgleich zwischen den eigenen Interessen und denen des Nächsten, wie er im Liebesgebot verlangt wird. Gleichzeitig erhalten wir eine klare Definition von Egoismus. Für das Wohl des Egoisten spielt das Wohl und Wehe des Nächsten keine Rolle. Sein persönlicher Nutzen ist davon unabhängig. Dies beruht auf seiner Einstellung, die eben gerade nicht dem dualen Liebesgebot genügt, sondern sich auf  missverstandene Eigenliebe beschränkt. 

An diesem Beispiel wird der logische Zusammenhang zwischen Liebes- und Nutzenethik deutlich. Erstere fokussiert die persönliche Einstellung, letztere die Werteabwägung, die erforderlich ist, um zwischen verschiedenen Handlungsalternativen zu wählen. In diesem Sinn sind sie wie zwei Seiten einer Medaille: Die Einstellung macht keinen Sinn ohne eine Werteabwägung und diese braucht die Einstellung als grundlegende Orientierung. Bei genauer Betrachtung haben wir also nur ein ethisches Paradigma als Handlungsmaßstab ausgewählt. Dieses wird bei manchen Betrachtungen von der Einstellungsseite, bei anderen von der Werteabwägungsseite ins Feld geführt. 

Ein weiterer schwerwiegender Grund für die Auswahl der oben skizzierten ethischen Messlatte ist die Tatsache, dass man sie nicht nur auf Handlungssituationen von Individuen, sondern auch von ganzen Gesellschaften anwenden kann, die durch ihre staatlichen Organe als Akteure auftreten. Die Liebesmaxime lautet dann für eine ganze Gesellschaft: Ihr sollt das Wohl anderer Nationen im Blick haben so wie ihr das Wohl eurer eigenen Nation anstrebt. Die sozialethisch variierte goldene Regel würde lauten: Alles was ihr von anderen Nationen erwartet, das tut auch ihnen. Damit ist dem Nationalismus aus christlicher Sicht eine klare Absage erteilt. Er impliziert eine Überbetonung des Wohls der eigenen Gesellschaft bis hin zur Rücksichtslosigkeit und ausbeuterischen Politik gegenüber anderen Völkern. Es handelt sich um eine Art von „sozialem Egoismus“. Da dieser Terminus für sich betrachtet leicht als widersprüchlich empfunden werden kann, habe ich dafür den Begriff „Sozioismus“ geprägt und damit die ethische Seite der politischen Kategorie ‚Nationalismus‘ mit einem eigenen Begriff belegt. 

Bei der Anwendung dieses sozialethischen Paradigmas stoßen wir natürlich auf das diffizile Problem der Organisationsstruktur von Gesellschaften, auf die Rolle von Staat und Verfassung. Die Entscheidungsprozesse in diktatorischen wie demokratischen Staaten verlaufen so, dass es Minderheitsmeinungen gibt. Diese werden von Diktatoren normalerweise unterdrückt. In Demokratien können sie sich artikulieren, unmittelbar durch Meinungsumfragen und Demonstrationen,  mit zeitlicher Verzögerung bei den nächsten Wahlen. Im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem steht die Frage im Raum, wie stark man auf Minderheiten bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen Rücksicht nehmen sollte. Gibt es so etwas wie die karitative Souveränität einer Bevölkerung, die einer besonderen Respektierung bedarf, z. B. durch das Instrument der Volksabstimmung? 

Geht man vom Nationalstaat in der Hierarchie höher, so gelangt man zunächst zu Staatengemeinschaften wie der EU, ASEAN, der OECD, der G20 usw. Deren Handlungsalternativen und ihre ethische Bewertung werden in dieser Abhandlung nur am Rande betrachtet, zumal die zu berücksichtigenden Integrationsgrade dieser Organisationen höchst unterschiedlich sind. Da die nahöstlich-europäische Flüchtlingskrise 2015/16 ausgewertet werden soll, spielt die EU bei der Gesamtbetrachtung zwischenstaatlicher Organisationen allerdings eine herausgehobene Rolle. 

Schlusspunkt der vorliegenden Arbeit ist eine globalethische Analyse des Flüchtlingsproblems. Akteur ist hier die mehr oder weniger fiktive Gemeinschaft aller Staaten der Erde, mehr oder weniger gut repräsentiert durch ihre Organisation, die UNO. Diesem Teil der Betrachtung kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als die Flüchtlingsfrage als globales Problem gesehen wird, das auf lange Sicht auch nur in einem globalen Ansatz gelöst werden kann. Ein solcher wird präsentiert und globalethisch begründet. Dabei stößt die Liebes- bzw. Wohlfahrtsethik in ihrer dualen Struktur an eine logisch-ontologische Grenze: Solange wir es nicht mit bewohnten anderen Welten zu tun haben, gibt es für unsere irdische Zivilisation keine „nächste Welt“, deren Wohl mit dem Wohl unserer Erde abzustimmen wäre. In einem Szenario mit vielen Welten, das z. Zt. noch der Science Fiction vorbehalten ist, würde man die für den Nationalstaat geltende Maxime sinngemäß auf bewohnte Welten anwenden. 

Um unsere Maxime auf das – z. Zt. noch -  geschlossene System Erde  anzuwenden, stellen wir uns am besten vor, wie die  Regierung eines Nationalstaats zu handeln hätte, dessen Grenzen total in dem Sinn geschlossen sind, dass keinerlei Austausch mit einem anderen Staat stattfindet. Dies ist natürlich nur eine Modellvorstellung, die aber für das de facto geschlossene System Erde relevant wird. Die Regierung eines derart „geschlossenen“ Nationalstaats  müsste das Wohl der gesamten Bevölkerung und jedes einzelnen Bürgers anstreben, wenn sie unserer Maxime genügen wollte. Die Ökonomie bietet hier das Modell des „wohlwollenden Diktators“ an. Man könnte es um das Modell eines „wohlwollenden Regierungsapparates“ ergänzen und damit auch nicht-diktatorische Strukturen berücksichtigen, zu denen u. a. die Demokratie gehören würde. Auch die UNO, als ein sehr lockeres Herrschaftssystem könnte man dazu rechnen. Sie müsste eine Politik machen, die die Entwicklung des gesamten Globus und jedes seiner Staaten und Bürger zu fördern hätte. Einen Ausgleich mit anderen lebenden Welten hätte sie nicht zu suchen, da noch keine bekannt sind. Natürlich müsste sie das System Erde einschließlich der sie umgebenden Sphären im Blick haben. Liebes- bzw. Wohlfahrtsethik für eine solche „Weltregierung“ mündet in ein internes Verteilungsproblem. Die UNO müsste die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal auf die Förderung der Mitgliedstaaten verteilen. In dem Maße, wie es gelingen würde, den Fortschritt eines Staates zu fördern ohne den eines anderen zu mindern, hätte man die Wohlfahrt der globalen Zivilisation gesteigert. Dieses von Vilfredo Pareto in die Diskussion gebrachte „Wohlfahrtskriterium“ wende ich auf den ganzen Globus an, ohne auf seine Problematik und Alternativen eingehen zu können. Im Hintergrund dieser Überlegungen steht natürlich das hochaktuelle Problem, wieviel Ressourcen und Kompetenzen die Staatengemeinschaft der UNO überträgt. 

Fünfundsechzig Millionen Flüchtlinge müssten für eine so eingestellte und handelnde „Weltregierung“ ein Indikator dafür sein, dass in den Herkunftsländern der Flüchtlinge und ihrem Umfeld vieles im Argen liegt: Hunger, Armut, Krieg bzw. Bürgerkrieg, Unterdrückung, Korruption, organisierte Kriminalität usw. Das sind die Ursachen des Fluchtphänomens, die langfristig zu bekämpfen sind, um die globale Wohlfahrt zu steigern. Kurz- und mittelfristig hat man es mit dem Symptom „65 Millionen Flüchtlinge“ zu tun, das zu therapieren ist. Dazu finden sich im letzten Teil der Arbeit eine Reihe von Vorschlägen, die in ihrer abgestuften Form den gegenwärtigen und vielleicht noch zu schaffenden Organisationsstrukturen der globalen Staatengemeinschaft Rechnung tragen sollen.



[1] Vgl. dazu meine Ausführungen in Johannsson, Bruno (2015): Ich liebe dich, wenn ich mich liebe. Ich liebe mich, wenn ich dich liebe. In: Hofweber, Gerhard (Hrsg.): Philosophy Slam 2015, Belka-Verlag, Stegaurach.

[2] Die Ökonomen tendieren dazu, den Begriff Nutzen auf Individuen und den Begriff Wohlfahrt auf Gesellschaften zu beziehen. Diese Handhabung ist jedoch nicht einheitlich wie das Konzept „Nutzen-Kosten-Analyse zeigt, das bei der Beurteilung sozialer Maßnahmen Anwendung findet. Man könnte beide Begriffe nahezu als synonym verwenden, sollte aber immer klarstellen, wessen Nutzen bzw. wessen Wohlfahrt angestrebt wird, nämlich ob es sich dabei um ein Individuum, eine Nation oder die ganze Menschheit handelt. Die jeweils auftretenden Probleme sind zumindest teilweise sehr unterschiedlich.

 


 

 Ist Eigentum Diebstahl?

 

 

 

Bruno (B): Heute ist Donnerstag der 18.11.2004. Wir beginnen mit einem neuen Thema. Thea (T) stellt die These. Sie lautet wie folgt:

 

Mit seinem Satz „Eigentum ist Diebstahl“ hatte Marx gar nicht so Unrecht.[1] Zumindest lässt sich Eigentum an Naturgegebenem moralisch nicht begründen. Historisch baut jede Eigentumsverteilung auf dem Ergebnis von Kriegen auf, die man sehr oft auch als Raubzüge charakterisieren kann.

 

B: Wir wollen mit der Fragephase beginnen, bei der es mir darum geht, die These noch etwas besser zu verstehen. Meine erste Frage lautet: Was verstehst du unter Eigentum? Insbesondere: Geht es hier um Eigentum in jeder Form oder nur um Eigentum an Produktionsmitteln?

 

T: Ich habe besonders hervorgehoben das Eigentum an naturgegebenen Dingen. Nicht alle Produktionsmittel gehören dazu. Andererseits kann man nichts produzieren, ohne nicht irgendwann einmal auf Naturgrundlagen zurückgreifen zu müssen.

 

B: Um das mit Begriffen aus der Volkswirtschaftslehre zu bringen: Diese unterscheidet die Produktionsfaktoren Boden - dafür kann man auch sagen Natur und Umwelt - Arbeit und Kapital. Sie fasst dann die ersten beiden Faktoren Boden und Arbeit zusammen zu den so genannten ursprünglichen oder originären Produktionsfaktoren und bezeichnet Kapital als abgeleiteten Produktionsfaktor. Ich nehme an, gegen diese Einteilung hätte auch Marx nichts einzuwenden gehabt. Ich weiß nicht, ob er sie selbst verwendet hat.

 

T: Das mag sein. Es kommt mir nicht darauf an, Marx zu interpretieren. Ich habe den Begriff „naturgegeben“ verwendet, um dem Missverständnis zu entgehen, dass Boden etwa nur ein Areal sei. Ich meine damit z.B. auch die Bodenschätze. Alles, was der Mensch nicht selbst gemacht hat, fasse ich unter „naturgegeben“ zusammen.

 

B: Das läuft darauf hinaus, dass du den Produktionsfaktor Boden in einem weiten Sinne meinst. Vielleicht ist der Begriff Umwelt besser, wenn man die Natur als Teil der Umwelt betrachtet. Das müsste man aber beides eigentlich erst abgrenzen. Auf alle Fälle sind auch in der Volkswirtschaftslehre, wie sie momentan besteht, die Bodenschätze allemal mit drin, ebenso die Luft in ihren verschiedenen Schichten, dann auch die tieferen Bodenschichten, natürlich auch die Meerestiefen. Das alles betrachtet man durchaus als Produktionsfaktor „Boden“.

 

T: Ich nehme an, dass das erst im Lauf der Geschichte unter dem Begriff „Boden“ subsummiert wurde, mit zunehmendem Problembewusstsein der Menschen.

 

B: Man kann davon ausgehen, dass sich das  erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hat, genau genommen sogar erst in den siebziger Jahren, ausgehend von den USA, die in den Umweltfragen zumindest in der Wissenschaft eine gewisse Vorreiterrolle hatten. Möchtest du deine Aussage über Eigentum und Diebstahl auf diesen Produktionsfaktor oder Produktionsbereich beschränken? Dann hätten wir die Produktionsmittel, also das Kapital, nicht dabei. Es wäre eine eigene Aussage. Wie möchtest du das gern handhaben?

 

T: Ich möchte es auf die natürlichen Ressourcen beschränken. Dadurch, dass sich einzelne Menschen meistens mittels Gewalt das Verteilungsrecht dieser Ressourcen gesichert haben, entstand die Grundlage späterer Eigentumsordnungen. Es kamen noch andere Faktoren dazu, die moralisch vielleicht weniger anfechtbar waren, aber irgendwo hängt jede Eigentumsordnung, die sich etablieren konnte, mit dieser Anfangsverteilung zusammen.

 

B: Das ist eine Sicht der Geschichte, die ich so weit verstehe, aber nicht im Einzelnen nachvollziehen kann. Dazu müsste ich mich erst etwas näher mit geschichtlichen Abläufen befassen. Aber ich möchte die Frage dahingehend zuspitzen: Habe ich das richtig verstanden, dass du indirekt sagen möchtest, dass an den natürlichen Ressourcen Gemeineigentum praktiziert werden sollte?

 

T: Ich möchte zunächst noch keine Schlussfolgerung ziehen. Es könnte sein, dass etwas, das an sich zwar ungerecht ist, trotzdem effektiv ist. Da bin ich mir nicht ganz sicher. So weit würde ich im Moment noch nicht gehen. Jedenfalls würde ich es schon als ein Ideal betrachten, vorausgesetzt, dass es sich praktisch durchführen lässt. Ich meine das Gemeineigentum an den natürlichen Ressourcen.

 

B: Das wäre die eine Sache. Du musst dich in dieser Hinsicht  auch nicht festlegen, denn deine These geht in der Tat noch nicht so weit. Jedenfalls gehst du, wenn ich das richtig verstehe, von dem Satz „Eigentum ist Diebstahl“ aus und schränkst das etwas ein auf die natürlichen Ressourcen. Die Frage liegt nahe:  Wie möchtest du hier „Diebstahl“ begründen, definieren. Du musst irgendeinen Maßstab anlegen, um etwas als Diebstahl zu bezeichnen, was sich in der Geschichte ergeben hat.

 

T: Ich hab es dann modifiziert. Es ist vielleicht doch eher Raub als Diebstahl. Diebstahl ist  das, was heimlich und hinten herum passiert, während Raub ganz offen und mit dem „Recht des Stärkeren“ praktiziert wird. De facto war wohl meistens letzteres der Fall. Es ist zu Kriegen gekommen, schon seit Urzeiten, und es ist sehr auffallend, dass auch ganz offen und unverbrämt Kämpfe um das Land mit besseren Lebensbedingungen geführt wurden. Es waren Kämpfe um neuen Lebensraum, meinetwegen von Steppenbewohnern, die in Trockenzeiten in ihrem angestammten Lebensraum gar nicht überleben konnten. Und wie hat man diesen Lebensraum bekommen? Dadurch dass man denen, die vorher dort saßen, etwas weggenommen, sie vertrieben, sie unterjocht und verpflichtet hat, Tribute zu leisten dafür, dass sie auf ihrem eigenen Land weiter sitzen und arbeiten konnten. Ich glaube, das lässt sich sehr gut nachweisen, dass das mindestens seit Ende der Jungsteinzeit ständig der Fall war. Die Frage ist, ob man sagt: „Damals haben es die Leute so empfunden. Sie haben gesagt: "Wir haben unser Leben eingesetzt. Wir haben gesiegt. Also sind wir  im Recht.“ Das ist das Recht des Stärkeren. Heute, wo wir das Faustrecht und das Recht des Stärkeren eigentlich nicht mehr als Recht anerkennen, hängt unsere ganze Eigentumsordnung noch mit dem zusammen, was sich zu den damaligen Zeiten als Besitz und Eigentum herauskristallisiert hat. Irgendwann kamen dann Rechtsgrundsätze ins Spiel, aber die sind immer vom Status quo ausgegangen, der  schon auf diesen Raubzügen aufgebaut war.

 

B: Angenommen man käme zu dem Schluss, die gegenwärtige Eigentumsordnung beruhe auf Raubzügen, dann wäre es trotzdem nicht einfach, das alles wieder rückgängig zu machen.

 

T: Es ist erstens nicht einfach und zweitens evtl. sachlich nicht möglich. Und außerdem könnten die Völker aus den benachteiligten Gebieten dieser Erde sagen: Ist es das Recht derer, die zufällig in einer guten Gegend zuerst ankamen und sich vermehrt haben, dort zu bleiben? Wenn die Naturressourcen Allgemeingüter sind, wie weit reicht dann die Allgemeinheit? Beziehen wir uns dabei auf ein Staatsvolk, so dass es innerhalb einer Nation verteilt wird? Oder beziehen wir uns auf die ganze Menschheit, wobei jeder Mensch eigentlich Eigentumsrechte hätte an allem, was die Natur hervorbringt überall auf der Erde? Und wie ist es zwischen den Generationen? Was ist, wenn sich einige Völker vor anderen für Geburtenbeschränkung entscheiden? Eigentlich tun sie das  zu dem Zweck, dass ihre Nachkommen eine bessere Lebensgrundlage haben. Das wäre völlig sinnlos, wenn die anderen Völker, die diese Beschränkung nicht auf sich nehmen, Rechte gemäß ihrer Bevölkerungsgröße hätten. Umgekehrt wird jeder, der erst einmal als Mensch existiert, auf sein Lebensrecht pochen. Es ist also nicht etwa einfach, Kriterien zur Verteilung herauszuschälen.

 

 

 

B: Ich will noch einmal zurückkommen auf die These. Du hast  gewissermaßen selbst Fragen aufgeworfen, die offenbar auch für dich noch keineswegs geklärt sind. Um die These noch etwas zu erhellen, würde es mich interessieren, ob du diese Beschränkung des Eigentums auf nicht Naturgegebenes auch innerhalb eines Volkes für Privatgrundstücke vorschlagen würdest bzw. für wünschenswert hältst. Das würde bedeuten, es gäbe in einem solchen Staat kein Grundeigentum. Geht das so weit? Oder beziehst du dich mehr auf den Zusammenhang zwischen den Völkern, dass bestimmte Völker gute Regionen, andere Völker schlechtere Regionen haben? Wie weit geht deine Überlegung?

 

T: Auch das Eigentum an Grundstücken kann man, moralisch gesehen, anfechten. Grundstücke sind  ohne Zweifel eine Naturgegebenheit. Das moralische Problem entsteht dadurch, dass dann, wenn eine Eigentumsordnung erst einmal entstanden ist, Leistungen der Eigentümer in die Grundstücke gesteckt werden. Ist ein Areal von Natur aus gutes Ackerland oder ist es gutes Ackerland, weil es von Generationen gehegt und gepflegt, bebaut und gedüngt wurde. Wenn letzteres der Fall wäre: Wie werden diese Eigentümer dafür kompensiert und entlohnt, dass sie das getan haben?

 

B: Verstehe ich das richtig, dass du für eine Eigentumsordnung plädierst - auch bei Grundeigentum - die eigentlich der der Indianer entspricht? Denn die Indianer hatten, so weit ich informiert bin, die Regel, dass es am Land kein Eigentum geben soll, dass das Land allen gehört.

 

T: Das halte ich für eine recht sinnvolle Vorstellung und ich glaube auch, dass es einen Zeitraum in der Geschichte gab, in der das in allen Völkern einmal die Vorstellung und die herrschende Form war. Das Land hat der Sippe gehört, also den Bewohnern gemeinsam und wurde immer wieder neu aufgeteilt. Ich meine, in Israel gab es die Regel, dass nach 7 mal 7 Jahren das Land neu aufgeteilt werden sollte.

 

B: Das ist  immerhin bemerkenswert. Es gab das so genannte Erbteil. Jedem einzelnen Stamm wurde ein bestimmtes Gebiet zugeordnet und innerhalb der Stämme kann man davon ausgehen, dass jede Sippen ihr Erbteil hatte. Dass das alle fünfzig Jahre neu verteilt werden sollte, das ist dann eine eigene Sache. Aber jedenfalls gab es in Israel Eigentum an Grundbesitz für mindestens 50 Jahre. Ich glaube, so viel können wir aus der Geschichte Israels entnehmen.

 

T: Wenn man sagt 50 Jahre, so könnte man das als eine Art sehr langer Pacht gegenüber dem Gesamtvolk betrachten, allerdings in dem Sinne, dass man keine Pachtgebühren gezahlt hat und wusste, es kann wieder eine Umverteilung geben.

 

B: Geht deine Vorstellung dahin, dass man also z.B. für Deutschland sagen könnte. Das ganze Territorium gehört dem Staat, also der öffentlichen Körperschaft Bundesrepublik Deutschland. Diese verpachtet es für eine bestimmte Zeit an bestimmte Leute mit oder ohne Entgelt. Wäre das eine Vorstellung, die dir nahe käme?

 

T: Angenommen es wäre ein wirklich demokratischer Staat, in dem das Volk die Kontrolle über die Regierung hat, so wäre das eine Vorstellung, mit der ich mich anfreunden könnte. Um das Land zu nutzen, müssen die einzelnen wissen, wer welches Stück Land nutzen darf Eventuell wird es mit Auflagen und nur für ganz bestimmte Zwecke vergeben. Ich wäre dann allerdings der Meinung, dass es  sinnlos ist, das Land so aufzuteilen, das jeder eine gleiche Parzelle erhält. Es wären Pachtgebühren zu zahlen, die auf das ganze Volk zu verteilen sind, so dass mehr oder weniger jeder einen Anspruch auf einen Anteil am so erwirtschafteten Gesamtvermögen hat.

 

B: Also du stellst dir vor, dass auf jeden Fall Pacht bezahlt wird und dass diese Pacht dann eine Art Staatseinnahme ist.

 

T: Aber eine Staatseinnahme, die ich mir so vorstelle, dass sie in einen großen Topf fließt und dann pro Kopf auf die Staatsbürger verteilt wird, nicht dass die Regierenden damit schalten und walten können.

 

B: Na gut, das wäre eine Detailfrage. Noch eine weitere Detailfrage: Kannst du dir vorstellen, dass Land auch versteigert wird, dass man alle fünfzig oder hundert Jahre Landauktionen durchführt?

 

T: Versteigert nicht in dem Sinne, dass das ganze Geld auf einmal bezahlt wird. Aber wenn man fragt „Wer ist bereit die größte Pacht pro Monat oder Jahr zu zahlen?“ und dementsprechend den Zuschlag erteilt, so könnte ich mir das vorstellen. Dabei sollte der Staat die Möglichkeit haben, nur unter bestimmten Auflagen zu verpachten. Wenn jemand für diese Nutzungsvorgabe das meiste bietet, okay, dann soll er den Zuschlag erhalten.

 

B: Ich schlage vor, wir lassen das als Schlusswort für heute gelten.

 

 

 

B: Heute ist Samstag der 20. November 2004 und wir wollen Theas These weiter diskutieren. Wir befinden uns noch in der Fragephase. Meine nächste Frage ist: Wie stellst du dir die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln vor? Es war die zentrale These von Marx, die dann  auch die Weltgeschichte weitgehend geprägt hat, dass Produktionsmittel möglichst zu sozialisieren sind.

 

T: Wobei Marx sicherlich auch an die sehr kapitalintensiven Produktionsmittel in erster Linie dachte. Denn im Prinzip ist auch eine Nähnadel oder eine Säge im Haus ein Produktionsmittel. Und ich denke Produktionsmittel, die ein einzelner noch benutzen kann – klammern wir  mal das Problem der Automatisierung und der Roboter aus – da hätte auch Karl Marx nichts dagegen gehabt, wenn die in privater Hand bleiben. Das Problem war für ihn, dass es Maschinen gibt, die sehr viel Kapitaleinsatz erfordern, um sie überhaupt zu bauen und an denen dann mehrere Arbeitnehmer beschäftigt sind. Da diese Maschinen so effektiv arbeiten, war es gesellschaftlich nicht sinnvoll zu sagen, jeder arbeitet lieber mit seinem kleinen Handgerät zu Hause. Aber andererseits führte das dazu, dass der Kapitalist, der das Geld für diese Maschinen vorzuschießen in der Lage war, über das Produkt allein bestimmen durfte. Und das fand Marx nicht in Ordnung. Dieser Sachverhalt hat allerdings nichts mit den natürlichen Ressourcen zu tun. Sicherlich wäre die obige Situation so auch nie aufgetreten, wenn nicht vorher Menschen in der Lage gewesen wären, Kapital durch Aneignung der natürlichen Ressourcen anzuhäufen. Ich nehme an, wenn eine gleichmäßigere Eigentumsverteilung zu Beginn der industriellen Revolution da gewesen wäre, dann hätte diese vielleicht in sozialer Hinsicht ganz andere Folgen gehabt. Wobei Marx sicherlich fragen würde: Hätte sie dann überhaupt stattfinden können?

 

B: Das ist ein Blick in die Lehren von Karl Marx, die du hoffentlich richtig abgespeichert hast. Ich kann da nicht so gut mitreden. Aber das ist eigentlich auch nicht unser Thema, sondern es geht mehr um die Frage: Wie gestalten wir heute oder in Zukunft die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln? Und da möchte ich meine Frage noch einmal wiederholen: Wie siehst du diesen Sachverhalt, nachdem wir nun einige Jahrhunderte Erfahrungen haben mit den verschiedenen Eigentumsordnungen in Bezug auf Produktionsmittel in den verschiedenen Staaten: Fällt  das auch unter die Rubrik „Eigentum ist Diebstahl?“ Mit anderen Worten: Eigentum an Produktionsmitteln ist Diebstahl?

 

T: Nicht automatisch. Wie gesagt, die Frage ist, woher kommt das Geld für exzessiv teure Produktionsmittel. Wenn sich jemand selbst ein Produktionsmittel herstellt und hat das Material von der Gemeinschaft zugebilligt bekommen nach den Regeln, die in der Gemeinschaft gültig waren, kann man das  eigentlich nicht als Diebstahl einordnen. Das mit dem Diebstahl würde ich wirklich nur auf die Naturressourcen beziehen, für die eben niemand etwas getan hat, die einfach da sind. Jemand maßt sich an und sagt: "Gehört mir."

 

Du hast die Frage aufgeworfen: Wie gestalten wir eine sinnvolle Eigentumsordnung? Das ist durch diese These, dass alle Eigentumsordnungen unserer Zeit auf Raubzügen der Vergangenheit beruhen, noch keineswegs geklärt. Denn da stehen gleich zwei Fragen im Raum. Die eine Frage ist: Was ist gerecht? Und da gäbe es auf jeden Fall moralische Gründe, das Eigentum nicht so als sakrosankt zu betrachten, wie es sich heute darstellt. Die andere Frage ist: Was ist effektiv? Was führt dazu, dass die Ressourcen der Erde am besten und sinnvollsten für alle Menschen genutzt werden? Das wieder ist eine ganz andere Frage. Beide Fragen müsste man beantworten können, wenn es um die optimale Eigentumsordnung geht. Insbesondere bei der zweiten Frage fühle ich mich als blutiger Laie. Da hätten vielleicht die Volkswirte uns einiges zu sagen.

 

B: Die Fragen, die du da aufwirfst, sind in der Volkswirtschaftslehre voll und ganz bekannt. Sie werden seit Jahrzehnten diskutiert, von sehr prominenten Volkswirten diskutiert, auch von Nobelpreisträgern. Auf Englisch heißen diese beiden Begriffe „equity“ für Gerechtigkeit, was  wörtlich Gleichheit heißt, und „efficiency“. für Effizienz. Zwischen equity und efficiency wird durchaus ein Konflikt gesehen, der mit Sicherheit nicht leicht zu lösen ist. Ich glaube sogar, dass dies einer der Grundkonflikte ist, in dem sich in der gegenwärtigen Zeit die deutsche Wirtschaftspolitik und möglicherweise die Wirtschaftspolitik weltweit befinden. Das wäre ein heißes Thema. Aber immerhin ist an dieser Sache deutlich erkennbar, dass hier philosophische Gesichtspunkte, - indem ich überlege, was ist gerecht, - und ökonomische Gesichtspunkte zusammenspielen und dass man das eine nicht ohne das andere klären kann. Da haben wir einen sehr interessanten Fall, wie Philosophie und Ökonomie in einem Zusammenhang stehen.

 

Aber wir wollen die Fragephase nicht vorzeitig abschließen. Ich habe noch eine Frage. Und zwar ist mir aufgefallen: Das ist doch ein Widerspruch in sich, wenn man sagt: „Eigentum ist Diebstahl“. Denn Diebstahl kann ich nur definieren, wenn ich vorher Eigentum definiert habe. Es gibt keinen Diebstahl, wenn es kein Eigentum gibt, so dass der Satz „Eigentum ist Diebstahl“ logisch jedenfalls sehr problematisch ist. Die Frage ist, wie du das siehst?

 

T (lacht): Gut. Wenn man sagt: „Eigentlich kann nur Eigentum gestohlen werden“, dann hast du recht. Wenn man aber von der Existenz eines Gemeinschaftseigentums ausgeht und ein einzelner sich dieses aneignet, dann würde man doch von Diebstahl sprechen. Angenommen eine Hausgemeinschaft hat in ihrem Keller eine gemeinsame Waschmaschine für das ganze Haus. Gehen wir davon aus, die Waschmaschine hätte nicht der Vermieter hingestellt, sondern die Bewohner hätten alle ihren Obolus beigetragen. Einer der Bewohner stiehlt die Waschmaschine. Das wäre auch Diebstahl, nämlich des Anteils der anderen Bewohner an der Waschmaschine.

 

B: Also man kann die Formulierung in deiner These retten, indem man sagt: „Privateigentum ist Diebstahl am Gemeineigentum.“

 

T: Ja.

 

B: Damit haben wir den Eigentumsbegriff erhalten, indem wir ihn auf das Gemeineigentum bezogen haben. Wir sagen: Die Gemeinschaft ist Eigentümerin einer bestimmten Sache, zum Beispiel der Natur. Wenn  jemand diese Sache privatisiert, beraubt er die Gemeinschaft. Das ist sicherlich auch die sozial- und  wirtschaftsethische Auffassung der Indianer gewesen, um es mal ganz vornehm auszudrücken. Natürlich war es bei ihnen religiös, traditionell bedingt, dass sie es als ein Sakrileg, als einen Fehltritt ohnegleichen betrachtet haben, wenn einzelne ihr Grundstück einzäunen und Anspruch erheben auf einen bestimmten Teil des Landes, sodass dieser nicht mehr allen zur Verfügung steht. Das haben die Indianer als völlig konträr zu ihren Traditionen empfunden. Und das wäre von daher auch mit Marx[2] in Einklang zu bringen, wenn man ihn so interpretiert, wie wir es getan haben.

 

T: Ich denke, diese Interpretation ist notwendig, um überhaupt diesen Standpunkt aufrecht zu erhalten. Denn das war  gerade die Begründung, die die europäischen Einwanderer der Sache gaben: Herrenloses Land, Dinge, die niemandem gehören, die darf sich aneignen, wer gerade kommt und clever genug ist, die Hände drauf zu legen.

 

B: Ich denke, dass damit die Fragephase zu Ende ist, es sei denn bis zum nächsten Mal fällt mir noch eine Frage ein. Aber für heute können wir, glaube ich, das Gespräch beenden. Oder möchtest du noch ein Schlusswort anfügen?

 

T: Ich wollte einen kleinen Kommentar geben. Ich war  wirklich überrascht, dass Gleichheit auch in der Wirtschaftstheorie, also bei den Wirtschaftswissenschaftlern, eine Rolle spielt. Ich hatte immer geglaubt, dass die Ökonomen mehr oder weniger ausgehen von Eigentumsordnungen, wie sie sind, dass sie vom Status quo ausgehen, ohne zu hinterfragen, wie denn derselbe zustande gekommen ist.

 

B: Da darf ich dich trösten. Es gibt in der Ökonomie seit Jahrzehnten die Theorie der so genannten „property rights“, und da ist im Prinzip alles denkbar. Da fängt man unter Umständen bei einer Tabula-Rasa-Situation an, wo noch gar nichts gegeben ist, und stellt z. B. die theoretische Frage: Wie kommt es denn überhaupt zu einer Eigentumsordnung? Und vor allen Dingen stellt man die Frage: Welche Eigentumsordnung ist im Hinblick auf bestimmte Ziele optimal? Die Frage steht in der Ökonomie seit langer Zeit im Raum, natürlich auch als eine sehr abstrakte Frage, die philosophischen Touch hat. Aber auf dem Niveau befindet man sich allemal.

 

T: Genau das war der Impuls, als ich meine These gestellt habe, dass man die Frage überhaupt stellen darf: Welche Eigentumsordnung ist denn optimal? Und dann nicht sagt: „Moment! Eigentum ist sakrosankt!“ Das könnte man dann aus ethischen Gründen gar nicht sagen, sondern man müsste zugeben, dass Eigentumsordnungen teils durch den Konsens der Gesellschaft, aber meistens durch den Konsens der Eroberer bestimmt wurden.

 

B: Ich lass das als Schlusswort gelten, und wir beenden das heutige Gespräch.

 

 

 

B: Heute ist Montag der 22. November 2004. Wir wollen unser Gespräch durch eine kleine methodische Zwischenreflexion fortsetzen. Und zwar interessiert mich die Frage, ob wir es erlauben wollen im Rahmen unserer Spielregeln, unserer Diskussionsregeln, dass die These im Laufe des Gesprächs geändert wird, z.B. am Ende der Fragephase.

 

T: Gut. Nicht in dem Sinne, dass sie dann oben geändert wird, weil dann das folgende Gespräch unter Umständen gar nicht mehr verständlich wäre, aber dass einer von beiden, wenn er durch die Diskussion zu neuen Einsichten gekommen ist, einen Änderungsvorschlag macht oder sich beide auf eine neue Formulierung einigen, das ist natürlich immer drin.

 

B: Dann sind wir uns in diesem Punkt einig und können diese kleine methodische Zwischenreflexion sehr kurz halten. Meine Frage ist, ob du persönlich am Ende der Fragephase der Meinung bist, die These auf die eine oder andere Weise etwas anzupassen.

 

T: Reich sie mir noch mal! (Sie liest die These nach). Bisher  sehe ich noch keinen Anpassungsbedarf. Wo würdest du denn gerne die These modifizieren?

 

B: Anpassung oder Änderung der These kann natürlich auch nur bedeuten, dass man sie eleganter, knapper formuliert, eventuell auch ohne den wesentlichen Inhalt zu verändern.

 

T: Gut, dann erwarte ich auch einen Vorschlag.

 

B: Man könnte den Satz: „Eigentum ist Diebstahl“ wie folgt  umformulieren oder einengen: „Privateigentum an natürlichen Ressourcen ist Diebstahl“.

 

T.  Das trifft schon das, was ich meine. Aber ich lege Wert auf den historischen Zusammenhang. Der würde wegfallen.

 

B: Ich meine, der erste Teil deiner ursprünglichen Formulierung stimmt durchaus mit dem überein, was ich  vorgeschlagen habe. Der zweite Teil würde ein bisschen unter den Tisch gekehrt. Der zweite Teil ist aber auch eine historische, weniger eine philosophische Frage, der man besser empirisch zu Leibe rücken würde.

 

T: Das ist richtig. Man müsste vielleicht noch mehr historische Kenntnisse haben, um  für jede einzelne Gesellschaftsordnung stringent zu belegen: Wo hat es Verteilungen gegeben, die auf Kriege zurückzuführen waren? Aber ich meine, wo es überhaupt Eigentum an natürlichen Ressourcen gibt, hat es das fast immer irgendwo gegeben, und die eigentliche Frage ist, welche Konsequenzen man daraus zieht. Ich wollte daraus die Konsequenz ziehen, dass man nicht aus moralischen Gründen oder Gerechtigkeitserwägungen eine sinnvollere  Eigentumsordnung mit dem Argument ablehnt:  „Das geht nicht. Man kann nicht einem Einzelnen sein Eigentum einfach entziehen.“ Das heißt, den Schutz des Eigentums halte ich für richtig, so lange es darum geht, dass nicht ein einzelnes Individuum geschädigt wird und ansonsten alles beim Alten bleibt. Aber wenn die ganze Eigentumsordnung auf den Prüfstand kommt, halte ich es unter Umständen auch für legitim zu sagen: Das ist ein neuer historischer Prozess bei dem Privateigentum anders verteilt wird.

 

B: Verstehe ich das richtig, dass du sagen möchtest, dass man den Bestandsschutz in der Eigentumsordnung deshalb in Frage stellen kann, weil man die ganze Entstehung dieser Eigentumsordnung aus Kriegen, Raubzügen usw. auch schon in Frage stellen muss.

 

A: Richtig.

 

B: Damit hat dieser zweite, mehr historische Teil deiner These eine Funktion bekommen, nämlich wie man in der Gegenwart oder in Zukunft mit der Eigentumsordnung umgehen kann und soll.

 

T: Für mich ist diese historische Überlegung wichtig, weil ich im Prinzip auf dem Standpunkt stehe, dass es gefährlich ist, wenn man mit dem Argument bloßer Zweckmäßigkeit Fragen der Gerechtigkeit ausklammert oder aushebelt. Das halte ich für jede Sozialordnung sehr gefährlich, wenn die Frage der Gerechtigkeit gar nicht mehr auftaucht, sobald die Fahne der Effektivität geschwungen wird.

 

B: Da sind wir wieder bei dem schon dargestellten Gegensatz von Gerechtigkeit und Effektivität, englisch „equity“ und efficiency“, angekommen. Das sollten wir im Auge behalten, da es im Hintergrund hier um sehr schwer wiegende, auch ethische Grundsätze geht, die in einen Konflikt geraten können, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten. Aber ich schlage vor, dass wir es heute dabei bewenden lassen. Wir haben eine sehr kurze methodische Reflexion eingeschoben, bei der wir uns schnell einig waren, und im Anschluss daran wurde auch noch der zweite Teil deiner These sehr viel klarer in seiner Bedeutung. Ich hatte ihn etwas unterschätzt. Möchtest du noch ein Schlusswort für heute sagen, oder lassen wir es dabei bewenden?

 

T: Lassen wir es dabei bewenden!

 

 

 

B: Heute ist Dienstag der 23. November 2004. Wir wollen unser Gespräch dadurch fortsetzen, dass ich darüber nachdenke, inwieweit ich mit der These übereinstimme oder Bedenken habe. Mein ganz grober Eindruck ist, dass ich nicht sehr weit von dieser These entfernt bin, also nicht meine, dass ich eine völlig andere Auffassung dazu habe. Allerdings wäre mein Ansatz zu dieser ganzen Eigentumsproblematik zunächst ein anderer, und ich würde gerne einmal in dem Gespräch verfolgen, inwieweit dieser Ansatz zum gleichen oder ähnlichen Ergebnis führt. Ich hatte schon in einem früheren Gespräch davon gesprochen, dass christliche Philosophie möglich sein sollte und wünschenswert ist und darin besteht, dass man auf der Grundlage von Offenbarung als Mensch weiterdenkt. Was die Eigentumsfrage anbelangt, gibt es im Alten Testament eine sehr kurze und glasklare Offenbarung, die vor einiger Zeit Motto eines evangelischen Kirchentages war, und dieser Satz lautet: „Die Erde ist des Herrn“. Es handelt sich um die Aussage, dass die Erde dem gehört, der sie geschaffen hat und dass die Menschen nur Verwalter dieser Erde sind. Es stellt sich die Frage: Was folgt daraus für menschliches Eigentum? Eine andere Offenbarung, die auch wieder aus dem Alten Testament kommt, und die ich für zuverlässig halte, ist die, dass der Herr eine Reihe von sehr prominenten Dienern wie z. B. Abraham hatte, die kein festes Eigentum an irgend einem Stück Land für sich beanspruchten, weil sie Nomaden waren. Hier gibt es übrigens eine gewisse Ähnlichkeit zu den Indianern Nordamerikas.

 

T: Richtig. Und als die Stämme dann Land bekamen, wurde der Stamm Levi ausgesondert zum Dienst am Herrn und bekam kein Landeigentum, sondern ihnen wurde gesagt: "Euer Erbteil bin Ich."

 

B: Und damit hast du schon den zweiten Begriff genannt, der hier überraschenderweise ins Spiel kommt, nämlich der Begriff „Erbteil“. Es wurde in der Tat Land verteilt, nachdem die Landnahme in Kanaan stattgefunden hatte, und es war die Rede vom Erbteil. Mir fällt  gerade ein, dass man das in Verbindung bringen kann mit diesem ersten Gedanken, dass die Erde dem Herrn gehört. Der Herr stirbt zwar nicht. Insofern würde der Erbfall gar nicht eintreten: Aber offenbar wird hier das Bild des Erbes mit dem Sinn verwendet, dass die Menschen aufgerufen sind, dem Herrn nachzufolgen im Erbe. Das bedeutet: Alles gehört ursprünglich dem Herrn, und er gibt es weiter als Erbteil.

 

T: So hatte ich das nie aufgefasst. Ich hatte das so aufgefasst, dass damit gemeint ist, dass das Stück Land weiter vererbt wird, also wie in einer Art Erbpacht. Dass ihnen zugesagt wird, das Land wird nicht nach einer gewissen Zeit oder im Todesfall weggenommen, sondern gehört dir und deinen Nachkommen nach dir, in dem Sinne, dass sie darauf sitzen und Verwalter bleiben. In den Zusammenhang, dass sie den Herrn beerben, hatte ich das gar nicht gebracht.

 

B: Deine Auslegung ist vielleicht die näher liegende. Das war auch eher bisher meine Auslegung. Der Gedanke, dass auch der Herr in gewisser Hinsicht beerbt wird, erscheint mir trotzdem nicht abwegig. Allerdings passt das Bild nicht ganz, weil der Herr nicht stirbt. Von daher ist die Auslegung, die du genannt hast, schon die etwas plausiblere. Wenn wir davon ausgehen, dass deine Überlegung hier die richtige ist, dann wäre damit ausgesagt, dass das Eigentum des Herrn eigentlich erhalten bleibt, er aber dieses Eigentum den Menschen über Generationen hinweg in Verwaltung gibt. Das wäre die Rechtslage: Der Herr ist Eigentümer und - wie du schon sagtest - in Form einer Art Erbpacht gibt er das Land an Menschen. Diese erhalten es über Generationen hinweg. Sie werden in gewisser Hinsicht zu Pächtern und schulden dem Eigentümer des Landes einen sorgfältigen Umgang mit dem, was sie gepachtet haben. Und aus diesem Gedanken des sorgfältigen Umgangs mit Eigentum, mit etwas, was einem letztendlich  gar nicht gehört, folgt eine ganze Menge, auch was  den Umgang mit natürlichen Ressourcen anbelangt.

 

T: Es ist vielleicht auch die praktische und einsehbare Begründung einer solchen Handhabung, dass man sagt: „Wenn das den Leuten alles nur auf eine zeitlich begrenzte Pacht gegeben wird, wie gehen sie dann damit um? Fangen die Pächter an, den Boden auszulaugen, wenn sie wissen, dass sie ihn bald verlassen müssen? Werden sie nach dem Motto handeln „Nach mir die Sintflut: jetzt will ich noch so viel rausholen, wie es geht.“? Dann wäre natürlich der Allgemeinheit und dem allgemeinen Wirtschaftskreislauf nicht gedient. Aber das zeigt auch wieder, dass man hier eine gewisse Schlitzohrigkeit oder einen Egoismus der Menschen voraussetzt. Ich frage mich auch, wie sich die gerade besprochene Regelung  mit der Jubeljahrregelung vereinbart, die besagt, dass nach sieben mal sieben Jahren eine gewisse Neuverteilung des Landes stattfindet. Es ist möglich, dass sich diese nicht auf das Erbland bezog, sondern nur auf die Geschäfte, die dazwischen getätigt wurden. Aber wenn das so war, so ergeben sich doch Ungleichgewichte dadurch, dass sich dieses ererbte Stück je nach Fruchtbarkeit der Familie verschieden viele Leute teilen sollten.

 

B: Das wäre eine Frage, die man an Hand der Schrift verfolgen müsste. Die Jubeljahrregelung müsste man sich etwas genauer ansehen. Jedenfalls sollte man sie im Auge behalten. An der Stelle dazu nur noch der Gedanke, dass in den 50 Jahren sehr unterschiedlich erfolgreich mit diesem Land gewirtschaftet wurde. Und du sagtest auch, die Vermehrung kann verschieden gewesen sein. Und es gab auch im alten Israel so etwas wie Unfreie, also solche, die sehr schlecht gewirtschaftet oder Pech gehabt hatten oder aus welchen Gründen auch immer unfrei geworden waren. Diese Unfreien sollten wieder frei werden.

 

T: Das war nicht die Jubeljahrregelung. Es gab noch folgende Zusatzregelung: Wenn jemand in Schuldsklaverei geriet, dann war der nach sieben Jahren freizulassen. Er musste also seine Schuld abarbeiten. Danach hatte er Anspruch darauf, wieder frei gelassen zu werden. Nur wenn er freiwillig gesagt hat: „Eigentlich geht es mir im Haushalt meines Herrn viel besser, als wenn ich selber für mich sorgen muss“, dann konnte er sich zu einem Dauersklaven machen. Aber diese Entscheidung traf der Sklave, nicht der Herr.

 

B: Gut.. Ich hatte vorhin den Gedanken, dass man den Satz „Eigentum ist Diebstahl“ hier wie folgt anwenden könnte: Jemand, der unangemessen und rücksichtslos mit seinem Erbteil umgeht, beraubt den Herrn in gewisser Hinsicht, weil er dessen Eigentumsrechte nicht respektiert und auf eine Weise damit umgeht, wie es der Herr, der Eigentümer, nicht wollte.

 

T: Und da man von der christlichen Vorstellung eines Gottes ausgeht, der alle Menschen liebt, ist es dann auch Diebstahl oder Beeinträchtigung der Gemeinschaft. Diese hat Nachteile, wenn jemand auf unangemessene Weise kurzfristig für sich viel rausholt aber langfristig damit die Investitionsgrundlage verdirbt. Dadurch werden die ganze Eigentumsordnung und das spätere Wirtschaften erschwert und somit die Wirtschaft der Gesamtgesellschaft beeinträchtigt.

 

B: Und vor allen Dingen auch spätere Generationen. Damit  hast du das ganze Generationenproblem, was in der heutigen Umweltökonomie und Umweltpolitik durchaus gesehen wird, mit ins Spiel gebracht. Ich nehme an, Marx würde sich im Grabe umdrehen, wenn wir seinen Satz gewissermaßen christlich interpretieren.[3] Aber das schadet  nichts, wenn sich der Marx ab und zu mal umdreht im Grab, dann bleibt er jedenfalls einigermaßen fit und kann zum entsprechenden Zeitpunkt das Grab auch wieder verlassen. Wir können das heute damit bewenden lassen, wenn du nicht noch ein Schlusswort dazu machen möchtest.

 

T: Ein Schlusswort brauchen wir noch nicht. Es geht sicher noch weiter zu diesem Thema.

 

 

 

B: Heute ist Mittwoch der 24. November 2004. Ich wollte einen Bogen schlagen zu dem, was die Wirtschaftstheorie zu diesem Thema zu sagen hat. Gewisse Dinge werden da schon seit Jahrzehnten diskutiert. Beispielsweise bezeichnet man - in manchen Theorien zumindest - die Umwelt und die Natur als öffentliches Gut oder als Kollektivgut. Das sind die Fachausdrücke für Gemeineigentum. Es gibt ganze Regale von Büchern und Aufsätzen zu dem Thema, wie man auf sinnvolle Weise mit einem öffentlichen Gut umgeht, wie man seine Produktion sicherstellt und finanziert. Und es gibt in dem Zusammenhang auch die Diskussion über die Frage: Ist es effektiver, bestimmte Bereiche zu privatisieren oder sie im öffentlichen Einfluss zu belassen? Es gibt die Fragestellung: Welche Gesetze sind angebracht, um einen angemessenen Umgang mit Kollektivgütern sicher zu stellen? Man kann sagen, dass die Wirtschaftswissenschaft  dieses Problem seit langem erkannt hat und dass es da auch alle Facetten von Standpunkten gibt. Ich überlege, was der Tenor ist, wenn man die Aussage „Eigentum ist Diebstahl“ nimmt, die ja etwas polemisch ist. Letzteres kann man  einfach verzeihen und stehen lassen. Der Grundgedanke ist von uns herausgearbeitet worden, was eigentlich gemeint ist, bzw. was du meinst. Du hast die Aussage bewusst  auf die natürlichen Ressourcen eingeschränkt. Ich habe den Eindruck, dass letztlich die Frage im Vordergrund steht, ob etwas privat bewirtschaftet wird oder nicht und dass diese Frage danach zu entscheiden ist, was effektiver ist.

 

T: Das wäre ein mögliches Entscheidungskriterium.

 

B: Bei dieser Frage geht es weniger um Gerechtigkeit, weil es keine Frage der Gerechtigkeit ist, ob etwas der Staat macht oder Private. Bei Gerechtigkeit geht es mehr darum:  Wer darf in welchem Umfang natürliche Ressourcen nutzen? Wie sollen natürliche Ressourcen verteilt werden? Das wären Fragen der Gerechtigkeit.

 

T: Ob das Fragen der Gerechtigkeit sind, hängt in meinen Augen auch von der Staatsform ab. Aber im großen Ganzen kann man das so stehen lassen. Die Effektivität im Sinne der Ziele der Gemeinschaft, das wäre ein mögliches Kriterium, die Dinge zu entscheiden. Zumindest sollte man dieses Kriterium hinzu ziehen. Übrigens kam vorhin eine Formulierung vor, die mir ein Widerspruch in sich zu sein scheint. Du hast gesagt, natürliche Ressourcen könne man produzieren. Das kann man nicht, sondern man kann sie allenfalls pflegen und schützen.

 

B: …und auch verbessern in ihrem Zustand. Und damit könnte man sagen, dass man Umweltqualität produziert. Wenn ich in einer Region die Luftqualität verbessere durch alle möglichen Maßnahmen, ist das im weiten Sinne der Ökonomie ein Produktionsprozess, weil  Werte geschaffen werden.

 

T: Das ist richtig. Man kann, wenn man schon mit der Umwelt schlimm umgegangen ist, die Schäden durch Maßnahmen wieder rückgängig machen, so lange die Umwelt noch nicht gekippt ist.

 

B: Und man kann auch die Umwelt so gestalten, dass die Bevölkerung in einem Land sich darin wohler fühlt, zum Beispiel indem man Spazierwege anlegt, indem man schöne Teile der Landschaft zugänglicher macht, ohne sie zu zerstören wohlgemerkt.

 

T: Aber das sind dann nicht mehr natürliche Ressourcen, sondern das ist menschliche Produktion, die allerdings immer auf der Grundlage der natürlichen Ressourcen stattfindet.

 

B: Noch einmal die Frage: Ist der Satz „Eigentum ist Diebstahl“ abgesehen von seiner polemischen Struktur akzeptabel? Wenn ich das Polemische etwas herausfiltere, dann bleibt eine Formulierung übrig, die etwa lauten könnte: Die natürlichen Ressourcen sollten so verwaltet und mit ihnen sollte so umgegangen werden, dass sie dem Gemeinwohl dienen. In dem Moment, wo ich Privaten erlaube, unangemessen damit umzugehen, beraube ich sozusagen die Gemeinschaft einer Ressource, die ihr gehört.

 

T: So könnte man das sehen.

 

B: Das wäre dann nicht so polemisch zugespitzt, aber wenn man es etwas kurz fassen und zuspitzen möchte, könnte man formulieren: Privateigentum an natürlichen Ressourcen ist Diebstahl.

 

T: Wobei das sogar dann gilt, wenn der Einzelne nicht verschwenderisch und falsch mit dieser Ressource umgeht, sondern sie nur zum eigenen Nutzen und zum Nutzen seiner Familie und Nachkommen einsetzt. Das kann bedeuten, dass er die Ressource pflegt und hegt, aber die übrigen Mitmenschen von der Nutzung ausgeschlossen werden. Dabei kommt übrigens wieder die Frage ins Spiel: Gibt es Fälle, in denen die Privatisierung noch die einzige Hoffnung ist, dass die natürliche Ressource überhaupt pfleglich behandelt wird? Wie weit sieht die Allgemeinheit? Ein Privatmann kann mit etwas Glück durchaus weitblickend sein. Wenn man immer nur die Durchschnittsmeinung nimmt, hat man evtl. viel weniger Chancen, dass die Leute immer sehr weit blickend handeln. Das ist einer der Fälle, wo sich Effektivität und. Gleichheit so ein bisschen beißen.

 

B: Es ist auch eine Frage der demokratischen Prozesse: Auf welche Weise findet die Allgemeinheit ihre Politik und wie wird sie durchgeführt ? Das ist gar nicht so einfach.

 

T: Und in welcher Form wird die Allgemeinheit an den Entscheidungen beteiligt?

 

B: Vielleicht sollte man die Aktualität der Überlegungen, die hier im Hintergrund stehen, auch in globaler Sicht sehen. Wenn man z. B: die globale Verteilung der natürlichen Ressourcen Trinkwasser und Ackerboden unter den Gesichtspunkten Effektivität und Gerechtigkeit betrachtet, so stößt man auf viele Probleme, die noch nicht gelöst sind.

 

      T: Das ist richtig. Und ich meine, wenn man einen Stolperstein für eine bessere Lösung, nämlich das Sakrosankthalten des gegenwärtigen Eigentums, beiseite schiebt, bedeutet das noch keineswegs, dass die Probleme gelöst werden können.

 

B: Mir fällt in diesem Zusammenhang gerade noch eine Sache ein. Möglicherweise steht im Hintergrund aller Überlegungen zur Eigentumsordnung eine viel allgemeinere Überlegung, nämlich die Frage, inwieweit ein Anspruch auf Erhaltung des Status quo bzw. auf Bestandsschutz besteht, egal  in welchen Bereichen. Ob  die Völker des Nordens auf dieser Erde wirklich das Recht haben an diesen Ressourcen, über die sie verfügen, die sehr viel günstiger sind, als die Ressourcen in Afrika, oder ob man Überlegungen anstellen kann, dass ein solches Recht, auf dem sitzen bleiben zu dürfen, was man einmal hat, auch wieder in Frage gestellt werden sollte.

 

T: Das ist richtig. Bis zu einem gewissen Grade würde ich das durch eigene Leistung Erworbene doch schützen wollen. Bei geistigen Gütern haben wir den Fall, dass die Rechte nach einer bestimmten Zeit der Allgemeinheit zu fallen. Warum soll das bei materiellen Ressourcen nicht gelten? Denn wenn wirklich etwas aus dem Eigensten eines Menschen geschöpft ist, dann sind es doch gerade diese geistigen Güter.

 

B: Wenn ich vielleicht noch einmal von mir aus als letzten Gedanken zu dieser ganzen Sache christliche Gesichtspunkte ins Spiel bringen darf. Hier ist meine Zukunftsvision die, dass die Ordnung der Erde, die geschaffen werden wird, wenn Jesus Christus wiederkommt, mit Sicherheit auf dramatische Weise Gesichtspunkte der Gerechtigkeit ins Spiel bringen wird. Da bin ich ziemlich sicher. Denn wenn wir uns die Heilige Schrift vor Augen führen, dann zieht sich wie ein roter Faden durch das Alte und das Neue Testament insbesondere der Schutz der Armen. Das ist etwas, an dem ein Christ nicht vorbei gehen kann. Darüber muss er auch nachdenken, sozusagen weiter denken auf der Grundlage von dem, was er als Heilige Schrift betrachtet. Es geht um die Frage, wie dann eine solche Gesellschaftsordnung auszusehen hat.

 

T: Und genau die Fragen hat sich  Marx gestellt, wie immer man dann das Ergebnis beurteilt. Und er ist zu dem Schluss gekommen: Es reicht eben nicht, die Armen zu schützen. Man sollte die Gesellschaft so organisieren, dass Armut gar nicht erst entstehen kann. Und die Frage ist, ob das bei der Ungleichheit der Menschen, die auch ein Faktum ist, machbar ist und ob es der Entwicklung des Menschen dienlich ist.

 

B: Du hast mit einer Frage abgeschlossen. Ich wollte generell dir auch das Schlusswort zugestehen. Was du jetzt noch ins Spiel gebracht hast, ist  eigentlich ein Thema für sich. Das sollten wir nicht unbedingt in diesem Zusammenhang behandeln.

 

T: Das sind durchaus neue Fragen. Ich habe  gesagt, die Eigentumsordnung ist im Grunde ein Hemmnis für die Gleichheit und möglicherweise gibt es auch andere und viel tiefer gehende Hemmnisse. Aber das Hemmnis Eigentum könnte man von der moralischen Erwägung her wegschieben. Ob sich das praktisch machen ließe, ist eine andere Frage. Jeder, der etwas hat, wie du schon sagst, möchte eigentlich mindestens den Status quo erhalten und wird sich wehren, wenn man ihm etwas wegnehmen will.

 

B: Wollen wir die Diskussion dieser These damit abschließen?

 

A: Könnte man


 

 

 

 

 

 

 

 

Wollen wir gleich sein?

 

 

 

B: Heute ist Samstag der 19. Januar 2008. Wir beginnen mit einer neuen These, die von Thea gestellt wird. Darf ich dich bitten, diese These vorzulesen?

 

T: Der Traum von einer Gesellschaft, in der alle gleich sind, könnte grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sein, weil er der Veranlagung des Menschen zuwiderläuft.

 

B: Wie üblich beginnen wir mit einer Verständigungsphase über diese These. Meine erste Frage lautet: In welcher Hinsicht sind die Menschen in diesem Traum gleich?

 

T: In ihren Rechten, in ihrem Ansehen, in ihrer materiellen Versorgung. Es gilt Gleichheit vor dem Gesetz. Alles, was da ist, wird auf alle Menschen gleichmäßig verteilt. Mit andern Worten: Alles, was an materiellen Gütern da ist, wird so verteilt, dass alle etwas davon haben, dass alle das haben, was sie zum Leben brauchen. Die Menschen gehen mit jedem Mitmenschen mit Respekt und Wohlwollen um. Keiner wird sozial an den Rand gedrängt. Das ist ein alter Menschheitstraum, wie er auch gerade im Christentum gepflegt wird.

 

B: Ich versuche, es auf Begriffe der modernen Wirtschaftswissenschaft zu bringen. Da käme in Frage die Gleichheit der Wirtschaftssubjekte im Hinblick auf Einkommen, Vermögen, Konsumgüter, Lebenschancen und so weiter. Kannst du zu diesen Begriffen bitte Stellung nehmen?

 

T: Im Hinblick auf Einkommen und Bildungschancen gilt Gleichheit auf jeden Fall. Bei Konsumgütern wünsche ich Gleichheit im Wert. Das heißt nicht, dass sie alle dasselbe haben müssen. Bei Vermögen weiß ich nicht, ob es in einem solchen System noch möglich ist, dass ein Einzelner Vermögen hat. Wenn es möglich ist, dass einer so etwas anhäuft, dann könnte dies ja wieder der Keim für Ungleichheit werden. Aber auf jeden Fall sollten wir sagen: Gleichheit in Bezug auf Mitbestimmung über das gesellschaftliche Vermögen.

 

B: Der letzte Punkt bringt einen neuen Aspekt ins Spiel, nämlich die Frage: Wem gehört was in dieser erträumten Gesellschaft? Kannst du diesen Gedanken etwas präzisieren?

 

T: Dadurch, dass es ein Menschheitstraum ist, ist es noch nie präzise in allen Einzelheiten durchdacht worden. Natürlich steckt der Teufel im Detail. Aber nun ist es gerade mein Verdacht, dass dieser Traum nicht deshalb undurchführbar ist, weil die Gesellschaft ein komplexes und schwieriges Phänomen ist, bei dem man Details übersieht, sondern dass es möglicherweise beim Menschen eine Grundstruktur gibt, die es verhindert, dass sich so etwas auf lange Sicht durchsetzen kann.

 

B: Ich habe durchaus verstanden, dass das die Quintessenz der These ist.

 

T: Die Frage ist: Muss man dann noch diese Details ausmalen? Wie gesagt: Menschheitsträume haben an sich, dass sie nicht bis ins kleinste Detail ausgearbeitet werden.

 

B: Ich habe die These so verstanden, dass das Wort "Traum" hier doch im Prinzip in Anführungsstrichen steht. Es geht ja in der ersten Hälfte der These auch um die Frage: Ist eine bestimmte Wunschvorstellung realistisch oder ist sie nicht realistisch? Dass du das ganze als Traum bezeichnet hast, war vielleicht doch mehr eine literarische Umschreibung. Es geht um eine Wunschvorstellung.

 

T: Es geht um eine Wunschvorstellung, die in der menschlichen Gattung verankert ist, immer wieder auftaucht. Es wäre noch zu untersuchen, ob diese Wunschvorstellung auch in außerchristlichen Gemeinschaften eine Rolle gespielt hat. Ganz stark ist sie jedenfalls im Bereich der persischen Religionen aufgetaucht; z. B. in der  Mazdaznan-Bewegung. Aber ob sie auch unter buddhistischen Vorzeichen, in China und Japan, ob sie bei den Indianern aufgetaucht ist, weiß ich nicht. Bei den Indianern gab es natürlich Allgemeineigentum auf der Grundlage des Gottkönigtums.

 

B: Unabhängig davon, in welchen Religionen, Philosophien und Kulturen die Wunschvorstellung von der Gleichheit bestanden hat, hast du sie hier in eine These gepackt und ein Urteil gefällt, ob es sich um einen realistischen Wunsch handelt oder nicht. Um dazu eine Aussage zu machen, muss der Wunsch präzisiert werden. Sonst braucht man nicht darüber nachzudenken ob er realistisch ist oder nicht. Er darf nicht vage, widersprüchlich und nebelhaft bleiben wie mancher Traum, sondern es muss schon eine klar formulierte Wunschvorstellung in den Raum gestellt werden, um dann darüber befinden zu können, ob sie realistisch ist bzw. warum sie es nicht ist.

 

T: Zu dieser Wunschvorstellung gehört auf jeden Fall: Gleichheit vor dem Gesetz, die bereits alle Demokratien zumindest in der Theorie akzeptieren. Zu dieser Wunschvorstellung gehört auch Gleichheit bei der Verteilung der materiellen Güter und auf jeden Fall Gleichheit der Bildungschancen und der Aufstiegschancen. Ich füge noch hinzu: Gleichheit im gesellschaftlichen Ansehen.

 

T: Und meine Frage war: Welche Rolle der Eigentumsbegriff in dieser Wunschvorstellung spielt. Du könntest dich bei dieser Sache aus der Affäre ziehen. Du könntest sagen: Privatvermögen gibt es gar nicht; alles gehört allen. Das wäre eine konkrete Wunschvorstellung.

 

Wie siehst du das?

 

 

 

T: Dazu neige ich tendenziell, wobei mir aber folgendes Problem klar ist: Wenn ich die Konsumgüter verteile und irgendjemand fängt an zu sparen, weil er sich für die Zukunft absichern will oder weil er einen ganz bestimmten Wunsch hat, was er damit später machen möchte, dann ist natürlich die Frage: Kann ich ihm das verbieten? Sollte ich ihm das verbieten? Und da bin ich mir nicht ganz so sicher. Aber auf jeden Fall sollte das, was ein Einzelner für sich persönlich anhäufen darf, sehr begrenzt bleiben.

 

B: Es ist eine bemerkenswerte Konsequenz, dass man gesetzlich das Sparen einschränken sollte, um zu verhindern, dass sich im Laufe der Jahre ungleiche Vermögen bilden. In diesem Zusammenhang gibt es ja die kommunistische Vision. Kannst du deutlich machen, wie weit das mit dem kommunistischen Gedankengut übereinstimmt bzw. nicht übereinstimmt?

 

T: Die Wunschvorstellung stimmt weitgehend mit dem kommunistischen Gedanken "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" überein. Dabei setze ich ein Fragezeichen hinsichtlich der Durchführbarkeit. Wenn man die objektiven Bedürfnisse zu Grunde legt, dann halte ich es für machbar. Wenn man das, was jemand subjektiv haben möchte, als Bedarf definiert, dann könnte es Probleme geben. Wir wissen inzwischen, dass die Ressourcen der Erde endlich sind. Die Vorstellung von Marx, dass sich mit zunehmender Schaffenskraft und Wissenschaft endlich die Schlaraffenlandgesellschaft einstellt, ist wohl nicht realistisch.

 

 B: Du kommst damit schon auf den zweiten Teil der These zurück, nämlich zu der Frage, in wie weit das realisierbar ist. Mir geht es zunächst wirklich nur um den Inhalt der Wunschvorstellung. Denn den brauche ich, um beurteilen zu können, wie weit ich zustimmen kann, was die Realisierbarkeit anbelangt.

 

T: Aber das gehört insofern nicht zum zweiten Teil der These, als die Begrenztheit der Ressourcen nicht das Hindernis der Realisierbarkeit ist, welches ich in der These genannt habe. Wenn die Wirtschaftstheoretiker unserer Zeit damit Recht haben, dass die Bedürfnisse der Menschen unendlich sind, dann würde das nur realisierbar sein in einer Welt, in der auch die Ressourcen unendlich sind. Aber ich habe in meiner These einen ganz anderen Hinderungsgrund im Auge, nämlich die Natur des Menschen.

 

B: Ich gehe kurz auf diese Sache ein: Unabhängig davon wie knapp die Ressourcen sind, ist es trotzdem denkbar, diese knappen Ressourcen gleich zu verteilen. Damit ist noch nicht gesagt, dass alle Wünsche der Menschen in Erfüllung gehen. Wenn die Ressourcen generell knapp sind und sie werden gleich verteilt, dann kann es trotzdem so sein, dass in den Köpfen und in den Herzen der Menschen noch Wünsche offen sind. Das ist aber immer noch eine Gleichverteilung.

 

T: Stimmt. Aber das bedeutet: In dem Moment, wo die Ressourcen so knapp sind, dass nicht mehr alle am Leben  erhalten werden können, wird man mit Sicherheit die Gleichverteilung nicht mehr durchsetzen können. Aber das wäre ein Problem, das wir in dieser Form bisher noch nicht haben. Im Moment sind alle Knappheiten von den Menschen selbst gemacht.

 

B: Zu dem letzten Satz möchte nicht im Detail Stellung nehmen. Aber wir sind uns einig, dass das nicht den Kern der These betrifft, in welchem Umfang die Ressourcen knapp sind oder nicht. Ich hoffe, ich habe dich richtig verstanden, dass dieser Traum in hohem Maße dem kommunistischen Traum ähnelt.

 

T: Ja.

 

B: Du hattest vorhin schon angedeutet, dass er in hohem Maß auch einem christlichen Traum ähnelt. Zumindest wurde er für kurze Zeit im Urchristentum verwirklicht. Auch von den Heiligen der Letzten Tage wurde seine Realisierung im 19. Jahrhundert zeitweise angestrebt. Ich komme zurück zu einer Formulierung, die möglicherweise zum Bereich des kommunistischen Traums gehört. In welcher Beziehung steht der Satz "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" zu diesem Traum?

 

T: Das ist ein Satz, dem ich zustimme. Wenn jeder nach seinen Bedürfnissen empfängt, ist es natürlich eine Voraussetzung, dass auch produziert werden muss. Es gibt nur wenige Dinge, die von der Natur so zur Verfügung gestellt werden, dass der Mensch sie unmittelbar konsumieren kann. Meistens müssen sie noch irgendwie bearbeitet werden. Die Notwendigkeit, dass produziert wird, wird bei Marx auch im Idealzustand vorausgesetzt. Aber er geht davon aus, dass Arbeit auch Freude machen kann und dass in einer solchen Gesellschaft jeder Mensch nach seinen Fähigkeiten dazu beitragen kann, dass produziert wird, was nötig ist, und auch dazu beitragen wird.

 

B: Inwiefern ist dieser Beitrag zur Produktion als gleich einzustufen? Oder kann er durchaus unterschiedlich sein?

 

T: Wenn gesagt wird "jeder nach seinen Fähigkeiten", dann liegt die Gleichheit wahrscheinlich mehr im Maß der individuellen Anstrengung als in dem Vergleich des Outputs.

 

B: Mit anderen Worten: Man hat sich vorzustellen, dass jeder seine Kapazität, seine Kreativität in gleichem Maße auslastet, sei es zu hundert Prozent oder, wenn das nicht erforderlich ist, vielleicht  zu achtzig Prozent, aber mehr oder weniger gleich.

 

 

 

T: Ich gehe davon aus, dass jeder seine Kapazität unter hundert Prozent auslasten wird, damit ihm noch Kräfte für Spielerisches, für eigene Wünsche und Neigungen übrig bleiben. Aber es sollte in etwa das gleiche Maß an Auslastung ist sein.

 

B: Kommen wir zur Bedürfnisseite. Es soll jeder empfangen vom Sozialprodukt, wie es seinen Bedürfnissen entspricht. Steht die Vorstellung im Hintergrund, dass jeder das Gleiche empfängt, oder zumindest den gleichen Wert?

 

T. Die Gesellschaft insgesamt müsste sich darüber einigen, was in die Rücklagen, was in die Produktion gesteckt werden soll, was für den Konsum zur Verfügung steht.

 

An dem, was für den Konsum gedacht ist, hat jeder in etwa den gleichen Anspruch auf einen bestimmten Wert, wobei man schon seine Konsumwünsche auf unterschiedliche Artikel lenken kann. Würde man anders verfahren, besteht bei knappen Ressourcen die Gefahr, dass die Anspruchsvolleren den anderen etwas wegnehmen oder dass das, was zur Verfügung steht, nicht ausreicht, wenn alle hohe Ansprüche haben.

 

B: Man hat festgestellt, dass die Bedürfnisse der Menschen sehr unterschiedlich sind. Du hast den Begriff "Anspruch" in den Raum gestellt. Dieser ruft etwas andere Assoziationen hervor, zum Beispiel die Assoziation dass jemand sagt: "Ich fordere das von der Gesellschaft". Die andere Frage ist ja die: Was hat jemand für ein Bedürfnis? Mit anderen Worten: Was braucht er, damit er ein bestimmtes Maß an Glück empfindet? Und gibt es solche, die sehr wenig brauchen? Einige brauchen nur gute Luft und eventuell möglichst viel Freizeit. Was Essen anbelangt, was Wohnung anbelangt, sind sie sehr wenig bedürftig, sind sie mit sehr wenig zufrieden. Andere wiederum brauchen sehr viel davon, bevor sie zufrieden sind. Ich will darauf hinaus: Wie wird unter diesen Umständen Gleichheit umgesetzt? Wie stellst du dir das vor? Oder gehst du davon aus, dass im Prinzip die Bedürfnisse doch gleich sind?

 

T: Das ist schwer abzuschätzen. In  einer Gesellschaft, in der der Besitz von Gütern nicht die eigene Leistungsfähigkeit widerspiegelt, also auch kein soziales Prestige verschafft, könnte es sein, dass dann auch die Bedürfnisse gar nicht so stark differieren, wie wir es heute kennen. In dem Moment, wo etwas Materielles sich partout nicht mehr als Statussymbol eignet, sondern wirklich nur in seinem tatsächlichen Gebrauchswert noch relevant ist, könnte es sein, dass die materiellen Wünsche der Menschen eklatant zurückgehen.

 

B: Das ist eine interessante Hypothese. Es wäre interessant, diesbezüglich wissenschaftliche Experimente anzustellen. Da könnte einiges draus folgen. Mir ist jedenfalls kein solches Experiment bekannt, aber ich könnte mir vorstellen, so etwas durchzuführen. Das war der erste Teil meiner Fragen. Wir könnten uns an dieser Stelle vertagen.

 

T: Das ist sinnvoll.

 

 

 

B: Heute ist Dienstag der 22. Januar 2008. Wir befinden uns noch in der Verständigungsphase zu deiner These. Ich möchte mich jetzt mit dem zweiten Teil deiner These befassen, in dem du begründest, weshalb dieser Traum unrealistisch ist. Du führst an, dass die Veranlagung der Spezies Mensch dem zuwiderläuft. Kannst du spezifizieren, wie weit du den Begriff "Veranlagung" hier sehen möchtest?

 

T: Ich gehe davon aus, dass jede Gattung von Lebewesen bestimmte, ursprüngliche Veranlagungen hat. Sicherlich ist in jedem Lebewesen der Instinkt verankert, um das eigene Leben und Überleben zu kämpfen. In dem Fall, wo Ressourcenknappheit besteht in dem Sinne, dass es zum Überleben knapp wird, würde auch eine Erziehung zum Teilen kaum mehr greifen. Darüber hinaus habe ich den Verdacht, dass  das Teilen den Menschen nicht zufrieden stellt. Biologisch gesehen ist er ein Säugetier und unter den Säugetieren gehört er zu den Herdentieren. Fast bei allen Herdentieren besteht das Phänomen, dass es eine Hackordnung gibt. Das bedeutet, dass sich im Laufe der Zeit herausstellt, wer an der Futterkrippe ganz oben ist, sich zuerst nehmen darf und wie es dann weiter nach unten geht, sodass eine Hierarchie entsteht. Wenn es stimmen sollte, dass das auch im Menschen biologisch verankert ist, dann würde das heißen: Selbst wenn genug da wäre, so dass jeder Einzelne leben könnte wie im Schlaraffenland, wäre der Mensch nicht zufrieden, sondern würde wissen wollen, wo sein Platz in der Hackordnung ist. Und das hieße: Mehr haben als ein anderer wäre dann an sich ein höheres Gut als das zu haben, was man braucht. Wenn das so wäre, dann ließe sich eine solche Ordnung, wo alles schön gleichmäßig verteilt wird, auf lange Sicht nicht durchsetzen. Es hat mehrere Versuche in der Geschichte gegeben. Diese sind nicht alle an wirtschaftlichen Schwierigkeiten eingegangen, sondern auch daran, dass die zweite oder dritte Generation nicht mehr wollte. Das eindrucksvollste und am kürzesten zurückliegende Beispiel sind die Kibbuzim.

 

B: Eine Frage zu diesem letzen Experiment. Ich bin darüber leider nicht im Detail informiert. Wird dieses Konzept als gescheitert betrachtet?

 

T: Es gibt noch viele Kibbuzim. Aber sie haben sich so gewandelt, dass es zwar noch genossenschaftliche Strukturen darin gibt, aber das, was es ursprünglich einmal war, eine Güter- und Lebensgemeinschaft,  das ist es, glaube ich, nicht mehr. Die Menschen haben doch irgendwie das Bedürfnis gehabt, sich individuell abzusetzen. Ich glaube, es gibt auch nicht mehr die Gleichheit des Einkommens. Aber da bin ich nicht hundertprozentig informiert, muss ich gestehen.

 

B: Sehe ich recht, dass dieses Argument ganz und gar aus der biologischen Ecke kommt?

 

A: Das siehst du richtig. Also nach dem Motto: Wenn es stimmt, dass der Mensch eine bestimmte biologische Veranlagung hat, dann ist meiner Meinung nach jeder gesellschaftliche Versuch zum Scheitern verurteilt, der zur Voraussetzung hat, dass diese biologische Anlage sich ändert. Wenn der Lebenskampf nicht nur eine anerzogene Sache ist, sondern dass es biologisch veranlagt ist, dass man sagt "Ich möchte wissen, wo ich stehe in der Hackordnung, und ich möchte um einen höheren Platz kämpfen können", dann werden die Menschen nie zufrieden sein, wenn alle den gleichen Platz haben. Es wäre allenfalls noch die Frage zu stellen, ob man diesen Ehrgeiz vielleicht auch mit symbolischen Sachen befriedigen könnte und nicht gerade mit der Verteilung der lebensnotwendigen Güter. Aber dann wäre absolute Gleichheit - auch in Respekt und Würde und solchen Dingen -  nicht durchsetzbar. Wenn das so wäre, dann brauchte man gar nicht zu versuchen, Lösungen zu finden. Dann würde man von vornherein sagen: "Das geht nicht, ohne den Menschen zu verkrüppeln."

 

B: In diesem Zusammenhang wäre von Interesse, den Stand der wissenschaftlichen Forschung zu dieser Frage zu kennen. Betroffen wären die Biologie, insbesondere auch die Genforschung, die Psychologie …

 

T: und die Soziologie.

 

B: Ich danke dir für diese Ergänzung. Hast du zufällig in dieser Hinsicht in der letzen Zeit etwas wahrgenommen?

 

T: Aus biologischer Richtung liest man da sehr viel, wobei manche meinen, dass es im Moment auch ein bisschen überschwappt. Während in den sechziger Jahren bei allem noch gesagt wurde: "Das ist Erziehung, gesellschaftlicher Einfluss" wird heute sehr viel der Biologie zugeschrieben. Im Grunde müsste in allen diesen Fragen noch erforscht werden, wie das Zusammenspiel ist. Ich erinnere an diesen Spiegel-Artikel über die aggressiven und gefährlichen jungen Männer. Es ist sicherlich richtig, dass Männer mehr Testosteron haben, und es ist vielleicht auch richtig, dass Jungen von Natur aus mehr dazu neigen sich zu balgen als Mädchen. Andererseits gibt es Gesellschaften, wo das eingedämmt werden kann. Ich erinnere an die Quäker. Was machen die denn in der Erziehung, dass das Testosteron anscheinend nicht in dieser Form zum Tragen kommt? Es wird ja auch in dem genannten Spiegelartikel gesagt: Vor allem junge Männer, die sich chancenlos am Bodensatz der Gesellschaft befinden, lassen ihren Aggressionen freien Lauf, obwohl sie wissen, dass ihnen das auch keine Aufstiegschancen eröffnet. Daraus kann man folgern: Es ist nicht das Testosteron allein verantwortlich, sondern es muss zumindest noch gesellschaftliche Nebenbedingungen geben, damit es zu aggressivem Verhalten kommt.

 

B: Habe ich richtig verstanden, dass du der Meinung bist: Es hat keinen Sinn, eine Gesellschaftsordnung gegen die biologische Veranlagung des Menschen zu basteln?

 

T: Richtig.

 

B: An dieser Stelle könnten wir die Fragephase beenden. Oder bist du der Meinung, dass einiges noch etwas genauer ausgeführt werden sollte, damit ich es besser verstehe?

 

T: Nein. Ich wollte nur unterstreichen: Ich habe in der These nicht gesagt, dass die biologische Veranlagung des Menschen so ist, sondern nur: "Angenommen es wäre so…“, Meiner Ansicht nach ist die Forschung noch nicht ausgereift und fein genug, um dies bereits endgültig zu entscheiden.

 

B: Du hast ja formuliert: "Der Traum von einer Gesellschaft …könnte unrealistisch sein." Du bist dir also in diesem Punkt noch nicht ganz sicher.

 

T: So ist es.

 

B: Ich schlage vor, dass wir uns heute etwas früher als sonst vertagen, weil ich unter diesen Umständen über die These doch noch etwas nachdenken muss. Sie ist ja deshalb etwas kompliziert, weil dieses "könnte" darin steht. Es wird also mehr eine Vermutung geäußert. Und da muss ich erst einmal überlegen, wie ich damit rein logisch umgehe, wenn jemand eine Sache so ausdrücklich als Vermutung in den Raum stellt (lacht).

 

T: Im Grunde hast du es eben richtig zusammengefasst: "Es hat keinen Sinn eine Gesellschaftsordnung gegen die biologische Veranlagung des Menschen durchsetzen zu wollen." Wenn du allein zu dieser Formulierung  ja sagst, dann wäre die Diskussion damit im Grunde schon beendet. Die Frage: "Ist das die biologische Veranlagung des Menschen?" wäre dann schon eine zweite.

 

B: Wärst du bereit, die These in der Weise umzuformulieren? Dann käme das Hypothetische aus der Sache heraus. Auch darüber kannst du ja mal nachdenken.

 

T: Ich wäre bereit die Hypothese umzuformulieren. Ich müsste nur überlegen, wie. (lacht)

 

B: Das wäre ein weiterer Grund sich heute zu vertagen.

 

T: Das kommt mir auch sehr entgegen wegen dem, was ich heute noch vorhabe.

 

 

 

B: Heute ist Donnerstag, der 24. Januar 2008. Thea hat sich dazu entschlossen, die These erheblich umzuformulieren. Darf ich dich bitten, die neue These vorzulesen?

 

T: Es ist zwecklos, Regeln für eine Gesellschaft durchsetzen zu wollen, die der menschlichen Natur zuwider laufen, selbst wenn sie noch so vernünftig wären.

 

B: Danke! Da die These doch erheblich überarbeitet ist, ergeben sich neue Fragen, so dass wir uns weiterhin in der Verständigungsphase befinden. Ich möchte bei der Gelegenheit darauf hinweisen, wie ergiebig allein schon eine Verständigung über eine These ist. Mit anderen Worten: Was man schon bewirken kann, indem man einfach nur Fragen zu einer Behauptung stellt. Ich hatte gegen Ende unseres letzten Gesprächs versucht, den Inhalt deiner These etwas salopp zu formulieren, hatte in etwa gefragt, ob der Kern der Sache der ist, dass es keinen Sinn macht, gegen die biologische Struktur des Menschen eine Gesellschaftsordnung zu gestalten. Meine Frage in Bezug auf die neue These lautet: Wenn du hier von "menschlicher Natur" sprichst, meinst du dann das, was wir in den bisherigen Gesprächen als die Genstruktur bezeichnet haben?

 

T: Ja. Also das, was im Menschen tief verankert ist und zu seiner Veranlagung gehört und nicht das, was ihn gesellschaftlich geformt hat, denn das würde ihn ja in einer anders gearteten Gesellschaft anders formen.

 

B: Verstehe ich richtig, dass in dieser Hinsicht die Kernaussage dieser neu formulierten These ganz ähnlich ist?

 

T: Ja. Ich habe sozusagen zunächst nur an meinen persönlichen Traum gedacht und mir die Frage gestellt: "Ist der überhaupt realisierbar?" .Jetzt habe ich das erweitert, so dass diese Skepsis natürlich für jede denkbare Gesellschaftsordnung gelten müsste, die das Merkmal aufweist, dass sie der Natur des Menschen nicht entspricht.

 

B: Mit anderen Worten: Unsere Verständigungsphase hat zu einer Verallgemeinerung der These geführt?

 

T: Ja.

 

B: Allerdings kommt in der These am Schluss noch etwas Neues ins Spiel, nämlich der Begriff Vernunft. Du hast formuliert: "selbst wenn sie - diese Regeln - noch so vernünftig wären". Kannst du die Vorstellung von Vernunft etwas erläutern, die im Hintergrund steht?

 

T: Man kann sich ein Regelsystem vorstellen, das zunächst nicht auf die Natur des Menschen reflektiert, sondern nur  fragt: Wie müsste die Gesellschaft geordnet sein, damit bestimmte Ziele erreicht werden? Ein solches Regelsystem kann in sich sehr schön und schlüssig und es könnte auch praktisch durchführbar sein mit den technischen Mitteln, die eine Gesellschaft hat. Es würde trotzdem, wenn man den Versuch machen würde, es in die Realität zu überführen, scheitern, weil die Menschen sich nicht entsprechend dem Plan verhalten würden.

 

B: Du hast den Begriff von Vernunft gleich sehr stark auf die These bezogen. Was sind denn für dich Kriterien, um zu entscheiden, ob etwas vernünftig ist oder nicht?

 

T: Ich habe schon angedeutet, dass es dabei um Ziele geht. Wenn ich etwa das folgende Ziel habe, das sicherlich viele Menschen teilen würden: "Jeder Mensch soll sein Auskommen haben, soll überleben können; die Gesellschaft soll so organisiert sein, dass kulturelle Leistungen und die Teilnahme aller an diesen möglich sind." Das sind doch alles schöne Dinge. Jetzt kommt meinetwegen ein Wirtschaftswissenschaftler daher oder ein Politikwissenschaftler und sagt: "Wenn wir das wollen, müssten wir folgende Regelungen einführen…" Diese könnten rechnerisch und verteilungsmäßig richtig sein. Aber immer setzt man dabei voraus, dass die Menschen sich auf eine bestimmte Weise verhalten.

 

B: Der Begriff Vernunft ist ja ein sehr zentraler Begriff in der Philosophie. Wir  hatten bei ähnlichen Gesprächen schon früher eine Ähnlichkeit, eine Verwandtschaft, eine Nähe zum ökonomischen Prinzip hergestellt. Zumindest habe ich darauf hingewiesen, dass es von Ökonomen gelegentlich so gesehen wird, dass sie das ökonomische Prinzip auch als Rationalprinzip oder als Vernunftprinzip bezeichnen. Geht der Gedanke in die Richtung, dass du sagen möchtest: "Die Ökonomen könnten eventuell in Zusammenarbeit mit den Soziologen, eine Gesellschaftsordnung entwerfen, haben bestimmte Ziele vor Augen, überlegen, welche Ressourcen da sind, und kommen dann zu dem Ergebnis, dass bestimmte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die gewünschte Gesellschaftsordnung zu realisieren"?

 

T: Ja.

 

B: Das ist ungefähr das, was du dir vorstellst, wenn du sagst, dass diese Regeln zwar durchaus vernünftig sein können, aber ihren Zweck doch nicht erreichen, weil sie gegen die Natur des Menschen verstoßen.

 

T: Richtig. Oder besser: Wenn sie gegen die Natur des Menschen verstoßen.

 

B: Ich sehe mich jetzt in der Lage, nahtlos in die Kritikphase überzugehen. Ich hoffe, ich habe auch die neu formulierte These verstanden. Als Ökonom würde ich sagen: Das ist ein schlechtes ökonomisch-soziologisches Modell, welches die menschliche Natur vernachlässigt. Die menschliche Natur muss - aus Gründen der Vernunft wohlgemerkt - berücksichtigt werden. Die muss sogar - und da gebe ich dir völlig Recht und in dem Punkt sind wir uns einig - als absolut vorausgesetzt werden, weil wir dagegen ja nicht ankommen auf lange Sicht. Da stimmen wir völlig überein. Das heißt: Die menschliche Natur bekommt hier den Charakter einer Restriktion für alle realisierbaren Gesellschaftsordnungen.

 

T: Ja.

 

B: Auf Dauer geht nichts gegen die menschliche Natur.

 

T: Genau das ist die Aussage dieser These. Und da fängt es eigentlich erst an, spannend zu werden. Denn das führt zur Frage: Was weiß man überhaupt mit Sicherheit über die menschliche Natur? Wir haben ja den konkreten Menschen immer nur, wie er in Kombination seiner Natur mit den äußeren Einwirkungen ist, so dass es sehr schwer ist, hundertprozentig auszumachen: Was an diesem Gesamtkomplex Mensch ist nun wirklich unverrückbare Natur und was ist nur "zweite Natur". Darunter verstehe ich einerseits die gesellschaftlichen Einflüsse auf den Menschen und andererseits seine Reaktionen und Strategien, die er daraufhin entwickelt hat und die zu seiner "zweiten Natur" geworden sind.

 

B: Wir haben gerade darin übereingestimmt, dass rein logisch gesehen die menschliche Natur als eine feste Größe beachtet werden muss. Aber auf Grund des Standes der Forschung stellen wir fest, dass die Meinungen über die menschliche Natur noch weit auseinander gehen.

 

T: Richtig. Es wird eine Menge behauptet, auch interessengeleitet behauptet, was aber mit letzter Sicherheit noch gar nicht erforscht ist.

 

B: Damit wird diese scheinbar so gewaltige und feste Restriktion plötzlich wieder windelweich.

 

T: Ja. (lacht)

 

B: Und den Experimenten ist Tür und Tor geöffnet, weil man sagt: Was der Mensch mitmacht, was er auf Dauer möchte, verkraftet, wissen wir ja gar nicht genau. Also experimentieren wir weiter mit der Gestaltung von Gesellschaftsordnungen. Damit kommen wir zur Kernfrage dieser These, die allerdings durch die These nicht beantwortet werden soll, nämlich zu der Frage: Was ist denn die menschliche Natur?

 

T: Richtig. Aber weißt du, was mir gerade auffällt? Du bist ja derjenige, der die Thesen gern noch auf ihre christliche Seite abklopft.

 

B: Ja?

 

T: Und jetzt ist mir aufgefallen, dass das ein dickes Argument ist für die These, die unsere Kirche schon immer verfochten hat, indem sie gesagt hat: ‚Erst müssen wir den Menschen so erziehen, dass er für die Vereinigte Ordnung[4] reif ist. Wir können ihm diese Regeln nicht einfach überstülpen und dann meinen, es würde funktionieren.’ Bevor man nicht den Menschen zur Einsicht gebracht und entsprechend erzogen hat, kann man "Vereinigte Ordnung" vergessen. Sie wird dann eher zu einer Art Gefängnis, in dem man das Gefühl hat, sich nicht entfalten zu können.

 

B: Auf dieses Thema wäre ich sicher noch gekommen. Das Besondere an deiner Interpretation des Begriffs "menschliche Natur" war ja, dass du sie von den Genen her definieren wolltest, also materialistisch. Dem möchte ich widersprechen. Aber selbst wenn wir jetzt ein Menschenbild in den Raum stellen würden, welches nicht rein materialistisch ist, ändert das nicht unbedingt etwas daran, dass es trotzdem eine bestimmte menschliche Natur gibt, deren Vorgaben zu berücksichtigen sind. In früheren Gesprächen waren wir uns schon teilweise einig, dass der Mensch, so wie er jetzt hier auf der Erde ist, ein zweigeteiltes Wesen in dem Sinne ist, dass er einen Leib hat, der den naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegt, und gleichzeitig einen Geist hat, der auf noch unerforschte Weise mit diesem Leib verzahnt ist. Die Frage steht im Raum, ob diese Tatsache, wenn man sie akzeptiert, dazu führt, dass gewisse genetische Veranlagungen von der geistigen Seite her, zum Beispiel durch Erziehung, ausgehebelt beziehungsweise integriert werden können.

 

T: Letzteres halte ich für möglich, ersteres nicht, m. a. W. "aushebeln" nein, "integrieren" unter Umständen ja. Ich habe schon auf das Beispiel der Quäker hingewiesen. Es könnte sein, dass es auch deshalb so schwer ist, die menschliche Natur zu erfassen, weil sie vornherein zwiespältig ist. Ich hatte gesprochen von Kampf ums Dasein und Überleben, Kampf um den Platz in der Hackordnung. Aber umgekehrt ist der Mensch auch fähig zum Mitleid und, - wie übrigens andere Säugetiere auch - zum Kampf für den Schutz der Jungtiere und so weiter. Es ist eben nicht so, dass man einfach sagen kann: Der Mensch ist per Veranlagung nur egoistisch und sonst gar nichts. Er ist eben durchaus auch zum Altruismus fähig. Und das macht es so schwierig, die menschliche Natur klar und eindeutig in den Griff zu bekommen.

 

B: In früheren Gesprächen hatte ich schon in den Raum gestellt, dass die menschliche Natur auch gekennzeichnet ist durch die Kräfte von Gut und Böse, die in ihr aktiv sind und die auf sie einwirken. Ich hatte die Vorstellung angedeutet, dass zurzeit ein Kampf der Kulturen stattfindet, der letztlich darauf hinausläuft, welche Kultur sich hier auf der Erde wie stark durchsetzen kann. Wir haben im Moment den Eindruck, dass wir zehn, zwanzig, hundert verschiedene Kulturen auf der Erde haben. Ich neige auch zu der Auffassung, dass der Mensch eine gewisse Freiheit hat, zwischen diesen Kulturen zu wählen und sie zu gestalten. Damit ist die Frage, wie die menschliche Gesellschaft aussieht, auch eine Frage der menschlichen Entscheidung. Die Entscheidungsfreiheit allerdings, die wäre ein zentrales Merkmal der menschlichen Natur, wie ich behaupten würde.

 

T: Aber ich meine, auch die Entscheidungsfreiheit hat die Restriktion, dass sie nicht die menschliche Grundstruktur ändern kann. Zugegeben, es geht schon sehr weit. Ich brauche nur daran denken, dass es heutzutage möglich ist, dass ein Mensch sich sogar für eine Geschlechtsumwandlung entscheiden kann. Das hat  in meinen Augen etwas Unechtes an sich, denn es ist zwar etwas sehr viel Weitergehendes, als wenn ich nur die Kleider des anderen Geschlechts anziehe und mich kostümiere, aber in der Zellstruktur, in den grundlegenden Dingen bleibt die Geschlechtsstruktur doch bestehen. Für mich ist das doch nur eine Umwandlung äußerlicher Merkmale. Aber das müssen die Leute mit sich ausmachen. Immerhin geht es schon sehr weit, was sich da heutzutage machen lässt.

 

B: Mir fällt an diesem Ansatz auf, dass der Eindruck entstehen könnte: Da bastelt jemand eine Gesellschaftsordnung, ein Philosoph oder ein Soziologe oder ein Ökonom oder ein Team, das so etwas da oben entwirft, und dann versucht man, die Menschen sozusagen zu integrieren in diese Gesellschaftsordnung, die man gebastelt hat. Eine andere Vorstellung wäre die: Da sind Menschen, die haben eine Freiheit, eine grundlegende Freiheit, die werden diese Freiheit ausüben, werden wählen. Sie entscheiden nicht alles auf einmal, sondern nach und nach. Daraus ergeben sich dann unterschiedliche Gesellschaftsordnungen ähnlich wie wir es in der Demokratie ansatzweise haben, dass sich durch Wahlen, die regelmäßig stattfinden, die Staatsform nach und nach ändert. Daraus ergibt sich ein etwas anderer Ansatz im Vergleich zu deiner These, bei der die Vorstellung im Raum steht "Wir konstruieren etwas". Der andere Ansatz wäre: Wir lassen die Dinge sich entwickeln, denken mehr über den nächsten Schritt nach und versuchen, Mehrheitsentscheidungen  herbeizuführen. Das entspricht auch der Vorstellung, die du vorhin geäußert hast. Wenn man zu einer extremen Gesellschaftsform vordringen möchte, wie der Vereinigten Ordnung, wie der Gütergemeinschaft im Urchristentum, dann ist das nur möglich, wenn sich eine Gemeinschaft Schritt für Schritt dahin entwickelt.

 

T: Natürlich gehört es auch zur Natur des Menschen, dass er a) anpassungsfähig ist an wechselnde Umweltbedingungen, wozu ja im weitesten Sinne auch die Gesellschaft gehört, die ihn umgibt, und dass er b) immer wieder versucht, die Umwelt in seinem Sinne, im Sinne der Erfüllung seiner Wünsche, zu beeinflussen. Damit kommt dieser Schritt-für-Schritt-Prozess zustande. Andererseits kann man natürlich nur dann einen nächsten Schritt festmachen, wenn man eine ungefähre Vorstellung davon hat, wo man denn hin möchte. Also muss man doch ein etwas größeres Ziel und einen Traum vor Augen haben, um überhaupt sinnvoll die nächsten Schritte setzen zu können.

 

B: Dem stimme ich zu, und damit sind wir natürlich in der Tat dabei, dass die Menschen ohne eine Utopie, ohne Ziele nicht so ohne Weiteres auskommen, dass es auch zu ihrem Wesen gehört, dass sie so etwas brauchen und haben möchten. Ich meine, wir könnten die Diskussion der These an der Stelle beenden. Wie siehst du das?

 

A: Das finde ich auch.

 



[1] Erst nach Beendigung unseres Dialogs haben wir festgestellt, dass dieser Satz  nicht von Marx stammt, sondern  von Pierre Brissot (1754-1793) (Vgl. Schumpeter, Joseph A. (1965): Geschichte der ökonomischen Analyse, erster Teilband, Vandenhoeck Ruprecht, Göttingen, S. 193). Aufgegriffen und bekannt gemacht wurde die Maxime durch Pierre Joseph Proudhon  (1809-1865). Sie hat Eingang gefunden in die kommunistische Maxime „Aufhebung des Privateigentums“, wie sie von Marx und Engels propagiert wurde (Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848/1999): Manifest der Kommunistischen Partei, Abschnitt II: Proletarier und Kommunisten ( http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm, zuletzt abgerufen am 21.8.2017)).   

Um das hohe Maß an Authentizität unserer Live-Dialoge zu bewahren,  haben wir die Ungenauigkeit in obiger These nicht geändert.

[2] Vgl. F 1 auf S. 12

[3] Da wir erst nach Beendigung des gesamten Dialogs fest gestellt haben, dass nicht Marx, sondern Proudhon der Autor des Satzes „Eigentum ist Diebstahl“ war, haben wir aus Gründen der Authentizität des Dialogs diesen Irrtum auch hier nicht herauskorrigiert. Es hätte sonst heißen müssen: „Ich nehme an, Proudhon würde sich im Grab umdrehen usw.“, was wohl auch zutreffen würde.

 

[4] In der Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) wurde in der Frühphase auch mit Modellen des Gemeineigentums experimentiert, die als Vereinigte Ordnung bezeichnet wurden. Das Scheitern wurde trotz der Eingriffe von außen in der Kirche darauf zurückgeführt, dass die Menschen nicht reif genug dafür gewesen seien. Die Vereinigte Ordnung wurde dann durch das "Gesetz des Zehnten" ersetzt, das die Mitglieder zu dieser immer noch als eigentliches Ideal betrachteten Wirtschaftsordnung erziehen soll.